In der Psychologie versteht man – etwas vereinfacht formuliert – unter einem Syndrom die Kombination von verschiedenen Krankheitszeichen (Symptomen), die gemeinsam auftreten. In einer solchen Lage befindet sich der deutsche Liberalismus.
Beginnen wir mit der narzistischen Kränkung seiner Leitfigur, Christian Lindner. Heute zeigt sich, welch komplette Fehleinschätzung Lindners Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen im November 2017 zugrunde lag. Die aktuelle Europa-Wählerschaft der FDP beträgt keine zwei Jahre danach ein Viertel der grünen Wählerschaft, und was weitaus dramatischer ist: das junge Wählerpublikum droht nicht nur den „Großen“ Koalitionären, sondern auch den Liberalen auf Jahrzehnte in Richtung der Grünen davonzulaufen.
Obwohl der strategische Bankrott Lindners immer offensichtlicher wurde, war niemand unter den ja alles andere als politisch einfältigen Führungsfiguren um ihn herum in der Lage, öffentlich Kritik zu artikulieren und einen Strategiewechsel einzufordern.
Je offensichtlicher Lindners Bankrott, umso verbissener und wütender seine Nahkampf-Gefechte, die er sich insbesondere mit Robert Habeck liefert. Zum einen bezeichnet er ihn als „cremig“, was Lindners narzistische Kränkung mehr als nur offen legt, denn wir befinden uns mit dieser homophoben Anspielung bereits unterhalb der Gürtellinie. Erstaunlich wiederum, dass andere Liberale – ich denke hier vor allem an die gediegene Garde der Altliberalen – ihm nicht in die Parade fahren und von ihrem Parteivorsitzenden ein bürgerlich-zivilisiertes Konkurrenzverhalten einfordern. Da Habeck genau darüber verfügt, sind seine Popularitätswerte beim städtisch-liberalen Publikum von Lindner nicht mehr einzuholen.
Via BILD attackiert er Habeck und die Grünen insgesamt als Umerzieher, als Lebensstil-Diktatoren, sie wollten den Petrolheads das Auto nehmen und den Fleischliebhabern das Steak, und für die Mittelschichtsfamilie würde die Flugreise nach Mallorca teurer … Wenn Populismus etwas mit Supersimplifikation zu tun hat, macht Lindner diesem Genre alle Ehre.
Leider haben sich diese Symptome im deutschen Liberalismus festgesetzt. Wo Grüne konkrete ökologische Reformen vorschlagen, tönt es aus FDP-Kreisen „unterkomplex“ oder „unsozial“ zurück. Wo Grüne auf die Entwicklungsstufe der E-Mobilität verweisen oder eine CO2-Steuer präferieren, beschwört die FDP die „Innovationskraft“ deutscher Ingenieure, denen die Politik nicht vorgreifen solle.
Sie haben keine Ahnung, wovon sie sprechen: Davon, dass es so etwas wie eine seriöse wissenschaftliche Innovationsforschung gibt, in der diese Themen (sachlich und kontrovers) diskutiert werden, haben weder Lindner noch andere führende Liberale auch nur einen Schimmer mitbekommen. Wenn bei ihnen das Stichwort „Innovation“ fällt, handelt es sich um nichts anderes als um kenntnislosen Voluntarismus.
Sicherlich, es hat seine Zeit gebraucht, bis sich die frühen Schlagworte grüner Politik – „nachhaltige Klimapolitik“, „nachhaltige Energieversorgung“, „ökologische Landwirtschaft“, „alternative Verkehrspolitik“ – in wissenschaftlich fundierte und reformtaugliche Konzepte verwandelten. Aber diese Schwelle wurde nicht zuletzt mit Hilfe einer sympathisierenden Scientific Community längst überschritten, sodass die FDP heute nur noch Spiegelfechterei vor aufgeklebten grünen Kinderfotos betreibt. Das gebildete Wählerpublikum nimmt auch diese Attitüde längst nicht mehr ernst.
Wenn es keine Persönlichkeit gibt, die Liberalen wachzurütteln und vor diesen drei (hier nur angedeuteten, sich überschneidenden) Wählergruppen zu rehabilitieren, ist Christian Lindners Weg unter die 5-Prozent-Hürde vorgezeichnet.
p.s.
Auf Nachfrage, ob ich Letzteres bedauere oder nicht, möchte ich antworten: Auch als Mitglied der Grünen kann man Grundgedanken des Liberalismus, vor allem die des klassisch-freiheitlich gesinnten, so sehr schätzen, dass man ein mögliches Verschwinden der FDP aus dem deutschen Parteienspektrum zurecht bedauern darf. Dies gälte erst recht, würde sich diese Partei, wie andernorts möglich, ökolibertär erneuern.