Ciao Bella

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Die Meinung einiger Kunst- und Marketing-Experten, Nofretete sei die schönste Frau in Berlin, könnte mit einer déformation profes­sionelle zu tun haben. Schon auf dem Weg zur Museumsinsel laufen einem Wesen über den Weg, und dann auch noch aus Fleisch und Blut, die den Vergleich nicht scheuen müs­sten. Worüber sich jedoch nicht streiten lässt: Dass Nofretete eine universelle Schönheit ist.

Vor rund zweihundert Jahren, ihre Büste schlummerte damals noch in ägyptischem Sand und Schotter, hat ein preußischer Weltbürger ein merkwürdiges Paradoxon entdeckt: Unser Urteil über Schönheit, obwohl subjektiv begründet, tritt immer mit dem Anspruch auf, allgemeingültig zu sein. Als ob Schönheit eine objektive Wahrheit wäre wie zum Beispiel die Erfindung des Rades.

Wir, die wir jetzt vor Nofretetes Büste stehen, stehen vor einer Verkörperung dieses Parado­xons. Seit der Archäologe Ludwig Borchardt sie vor einhundert Jahren entdeckt hat, erwächst aus dem subjektiven Empfinden von Millionen Be­trachtern der unangreifbare Status einer univer­sellen, alle Zeiten und Kulturen übergreifenden Schönheit. Wer objektivierte Schönheit wie diese beherbergt, dem ist weltweite Reputation und das Klingeln aller Kassen gesichert.

Tja, und hier liegt das Problem. Hätte jener Bildhauer Thutmosis vor etwa 3.300 Jahren statt Nofretete eine senile Alte vom Nil modelliert, und hätte der Archäologe Borchardt statt Nofre­tete deren verhutzelte Büste nach Berlin verfrach­tet, dann würden sich die Rückgabeforderungen Ägyptens in Grenzen halten. So aber ent­spann sich zwischen Berlin und Kairo ein nicht enden wollender Wechselgesang mit dem Titel: Wem gehört die Schöne?

Selbst Kunstexperte Adolf Hitler war daran beteiligt, als er seinem rückgabewilligen preu­ßischen Ministerpräsidenten den Marsch blies: „Hermann, die Nofretete bleibt hier!“ Hitler wollte mit ihr in seiner Reichshauptstadt Ger­mania glänzen, doch Nofretetes heutige Exposition auf der Museumsinsel hätte ihm wahrscheinlich auch gefallen.

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Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhun­derts konzentrierte sich das archäologische In­teresse der europäischen Mächte auf den Nahen Osten. Das Osmanische Reich lag in seinen letz­ten Zügen; ein nationalkulturelles Bewusstsein der zahlreichen orientalischen Völker begann sich gerade erst zu entwickeln. Kolonialverwaltungen bestimmten über Grabungsgenehmigungen und Ausfuhrerlaubnisse.

Das Resultat: Nach ihrer griechisch-römi­schen Phase spreizten sich die europäischen Mä­zene gern mit syrischen, ägyptischen, arabischen oder babylonischen Antiquitäten; im Louvre und im British Museum begannen sich die archäo­logischen Artefakte und Monumente aus dieser Region zu stapeln.

Deutschland kam wie immer spät, aber doch noch rechtzeitig zum Zug, wie auf der Museumsinsel neben Nofretetes Büste etwa die Prozessi­onsstraße von Babylon oder die Götter aus dem Tempel von Tell Halaf bezeugen. Und nicht nur Hitler, auch alle demokratisch gesinnten deut­schen Kulturpolitiker, Stiftungsvorstände, wis­senschaftlichen Beiräte oder Museumsdirektoren, die mit diesem Sachverhalt befasst waren und das Sagen hatten, lehnten bis heute und wer weiß wie lange noch eine Rückgabe Nofretetes an Ägypten ab. Im Januar 2011, kommentierte der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbe­sitz eine Bitte um Rückgabe mit den Worten: „Sie (Nofretete) ist und bleibt die beste Botschafterin Ägyptens in Berlin.“ Glaube niemand, andere Länder dürften selber bestimmen, wer sie als Bot­schafter in der deutschen Hauptstadt vertritt.

Das Hauptargument der deutschen Kulturpo­litik, wenn Ägyptens Forderungen abgeschmettert werden, lautet: „Wasserdichte Verträge“. Nach jahrelanger Ausplünderung hatte die ägyptische Antikenverwaltung neue Regeln für Fundteilun­gen eingeführt. Ägypten sollte den Zugriff auf die besten Stücke und die Hälfte der Gesamtgrabung erhalten. Wie Borchardt, dem die Besonderheit und Identität der Büste bewusst war, Nofretete „juristisch einwandfrei“ durch die Fundteilung und nach Deutschland bringen konnte, wird sich heute wohl nicht mehr im Einzelnen rekonstru­ieren lassen.

Aber unterstellen wir einmal, dass tatsächlich alles nach damaligem Recht und Gesetz abgewic­kelt wurde. Ist damit die Frage einer Rückgabe Nofretetes an Ägypten erledigt?

Die moderne Archäologie hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts aus ihren frühen kolonialen Ver­strickungen befreit und ist längst zu der Einsicht gelangt, dass alle antiken Artefakte legitimerweise in dem Land verbleiben müssen, wo sie gefunden werden. Selbst deutsche Kulturpolitiker und Museums­direktoren werden eines Tages zu der traurigen Erkenntnis gelangen, dass in exponierten Kon­flikten zwischen historischer Legitimität und zeitbedingter Legalität letztere in der Regel den Kürzeren zieht.

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Kommen wir nochmals auf jenen Weltbür­ger zurück, dem wir das eingangs geschilderte ästhetische Paradoxon verdanken. Weltbürger war Kant in dem Sinne, dass er sich nicht nur als nützliches Glied der preußischen Gesellschaft, sondern zugleich und vor allem als Fürsprecher einer vernunftfähigen Gattung verstand. Auch im Zusammenleben der Nationalstaa­ten sollen wir immer wieder versuchen, Wege ei­ner konsensualen Verständigung und friedlichen Übereinkunft einzuschlagen.

Bezogen auf unser Thema, den Reichtümern vergangener Hochkulturen, würde das heißen: Zwar zählen sie zum Besitz der Länder, in de­nen sie aufgefunden werden, zugleich aber sind sie Teil einer umfassenden Gattungsgeschichte: Weltkulturerbe. Deshalb lasst uns vernünftig dar­über unterhalten, wo und wie diese Reichtümer bestens gesichert und möglichst vielen Menschen in aller Welt vor Augen geführt werden können.

Die Leihgaben und archäologischen Aus­tauschprogramme im globalen Ausstellungs­zirkus von Museen und vergleichbaren Institu­tionen verdeutlichen, wie weit die praktische Vernunft sich bereits heute in ein Dickicht vor­arbeiten konnte, das über Jahrhunderte auf dem Boden von Raubzügen und Plünderungen, von Korruption und ungleichen Tauschverhältnissen herangewachsen war.

Natürlich sind es nicht hehre Überzeugungen, die diese Umkehr bewirken – jedenfalls nicht al­lein. Die Kulturpolitiker in den alten Großmäch­ten und Imperien, die Antikensammler in Paris, London, New York oder Berlin haben es heute nicht mehr mit Unterhändlern aus vereinzelten unterentwickelten Ländern zu tun, sondern mit archäologischen Interessengemeinschaften von aufstrebenden Staaten, die man möglichst nicht verprellen sollte – was nicht allein für Außenwirt­schaft und Militärstrategie gilt, sondern auch in den unterschied-lichen Runden des internationa­len Kulturaustausches.

Unsere Geschichte hat eine ironische Pointe. Als Kairo 2009 die Bitte an Berlin richtete, wenn keine Rückga­be, dann doch zumindest eine Ausleihe Nofrete­tes zur Eröffnung des neuen ägyptischen Natio­nalmuseums zu gewähren, da wollten diverse Gutachten zweifelsfrei belegen können, dass sich aufgrund der Fragilität der Büste eine solche Rückreise verbiete. Berlin atmete auf, man glaubte, in Sachen Nofretete endlich, endlich das Argument für ein ultimatives Ausreiseverbot ge­funden zu haben: Die zarte, zerbrechliche Schöne nach Kairo oder in den internationalen Austauschzirkus zu schic­ken, sei nicht zu verantworten.

Wären diese Gutachten tatsächlich begründet, Berlin hätte sich selbst ausgetrickst. Dann würde Deutschland und die ganze Welt er­leben, dass Nofretete nur noch eine einzige, eine letzte Reise machen wird – zurück an den Nil. Gesichert und geschützt wie ein Mensch, der zu einem anderen Planeten reist – was wird das für ein Spektakel sein!

Mit Todesverachtung werden sich seriöse Mu­seumsdirektoren und Regierende Bürgermeister vor den Transporter schmeißen; nerzbemäntel­te Damen der Berliner Gesellschaft werden sich und ihre Hündchen an Bahngleise ketten – alles vergebens. Bis dann im Hafen von Genua, wo Nofretete für die Überfahrt eingeschifft werden wird, das museophile Europa ein letztes, tränen­ersticktes „Ciao Bella“ von sich geben darf.

Die Frage lautet allein: Wann wird diese Reise stattfinden?

Wir haben die Wahl: Warten wir noch ein paar Jahrzehnte ab, bis uns eine kulturpo­litische Koalition ehemaliger Kolonien und zu­künftiger Wirtschaftsmächte auf die Knie zwingt. Oder werden wir die Schöne erhobenen Hauptes an den Nil begleiten und demonstrieren, dass uns der gute alte Deutsche Idealismus noch etwas zu sagen hat.

Wenn es ein verletzlicher Mensch zum Mond schafft, warum dann nicht eine fragile Büste von Berlin nach Kairo – und zurück. Allen Gutachten zum Trotz.