Wann immer es nach Parlamentswahlen zur Bildung von Regierungen oder zu Verhandlungen potentieller Koalitionspartner kommt, erhebt sich in vielen Medien und breiten Bevölkerungskreisen das populistische Ressentiment. Auf die Floskeln und Stereotype politischer Eliten – „demokratische Parteien müssen grundsätzlich verhandlungs- und kompromissfähig sein“, „ohne politische Macht, ohne die Besetzung politischer Ämter können wir unsere Ziele nicht erreichen“  – antworten leider nicht allein schlichtere Gemüter mit „Postengeschacher“, „das eigene Schäfchen ins Trockene bringen“, „die da oben, Opportunisten allesamt“.

Wo die politische Theorie in der Tradition Max Webers in der Rolle von Politikern und Parteien immer beides zusammen dachte: die fragile, immer gefährdete, zugleich aber doch immer notwendige, ja geradezu konstitutionelle Liaison von Eigen- und Allgemeininteresse, dort lamentiert die Politik meist hilflos mit dem Allgemeinen und belebt so nur die Brachialität der Populisten: „korruptes Pack!“.

Von solchem Verdacht bleiben natürlich auch grüne Politiker nicht verschont. Gerade wenn sie mit dem ihnen eigenen und nicht selten unerträglichen „moralischen Überschuss“ argumentieren, wird unverständlich, warum sie, ist der Wahlkampf erst einmal vorbei, anscheinend beliebig mit unterschiedlichsten Kräften und Parteien sich verbünden und koalieren können – rot-grün, rot-rot-grün, schwarz-grün, schwarz-schwarz-grün, rot-gelb-grüne Ampel, schwarz-grün-gelbes Jamaika.

Spielt der Koalitionskompass der Grünen tatsächlich verrückt? Alles beliebig? Oder gibt es Richtwerte, nach denen man grüne Koalitionsentscheidungen bewerten kann?

Hier hilft ein Rückblick auf 150 Jahre SPD:  Die deutsche Sozialdemokratie ist aller Voraussicht nach am Ende ihrer Geschichte angelangt, weil sie die Prinzipien und pragmatischen Regeln ihrer Sozialpolitik erfolgreich in allen Parteien und Gesellschaftsschichten verankern konnte. Keine Partei – sei sie im Ursprung oder ihrem Wesen nach konservativ, liberal oder ökologisch orientiert –  kann heute auf Grundsätze und Regeln sozialer Gleichheit verzichten. In diesem Wettbewerb geht es meist nicht um ein Ob, es geht um das Wie und Wieviel.

Das Schicksal der sozialdemokratischen Sozialpolitik ließe sich auch für die Umweltpolitik der Grünen erhoffen – wenn es nicht einen alles entscheidenden Unterschied zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Großprojekten gäbe: Für eine erfolgreiche ökologische Politik stehen keine 150 Jahre, stehen keine fünf Generationen zur Verfügung. Weit über den naturwissenschaftlichen Sachverstand hinaus hat sich die Einsicht verbreitet: Eine erfolgreiche Wende in Hinsicht auf Klimazerstörung oder Artensterben muss in ein oder zwei Generationen erfolgen. Mit Blick auf die mittlerweile dreißigjährige Geschichte der Umweltbewegung  gerechnet: Diese Wende muss in der heute aktiven Generation erfolgen. In diesem Wettbewerb gibt es ein Zuspät. (Hier liegt übrigens auch die Quelle  des „moralischen Überschusses“  vieler grüner Stimmen.)

Wie komplex Koalitionsentscheidungen immer sein mögen: Neben kulturellen und sozialen, neben macht- und tagespolitisch bedingten Faktoren ist es vor allem diese fundamentale Zeit-Bedrängnis, die den Koalitionskompass der Grünen ausrichtet. Oder mit Blick auf die bekannten „Knackpunkte“ von Koalitionsgesprächen formuliert: Die Grünen müssen vor allem mit solchen politischen Kräften die Verbindung suchen, die ökologische Maßnahmen oder Projekte nicht beständig hinter den Erhalt überkommener Arbeitsplätze platzieren wollen, hinter den Erhalt überholter Technologien,  hinter eine zu erhaltende internationale Konkurrenzfähigkeit etablierter, gleichwohl altersschwacher Industrien.

In Deutschland finden sich solche ökologischen Positionen mittlerweile in allen demokratischen Parteien, wenn auch nicht unbedingt, wie vor allem Christian Lindner immer wieder demonstriert, im Führungspersonal. Aber die Argumente der Erst-Dann-Traditionalisten in der Union, in der FDP, in der SPD und der sozialistischen Linken verlieren allmählich an Überzeugungskraft und Einfluss, weshalb Koalitionen in verschiedenen Richtungen und in unterschiedlichen Farbkombinationen möglich sind. Wenn man nach einer elementaren Funktion innerhalb komplexer Koalitionsentscheidungen aufseiten der Grünen Partei sucht, wird man auf den möglichen Zeitgewinn für ökologische Wendemanöver verwiesen, der in solchen Verhandlungen zu erzielen ist.

Dass auf ihren Koalitionskompass weitere Faktoren einwirken, ist banal. Um hier allein an Aktuelles zu erinnern: Wie und mit wem lässt sich das Deprivationssyndrom in der AfD-Wählerschaft bekämpfen; wie und mit wem lässt sich das Kernstück der Europäischen Union, die in Bedrängnis geratene liberale Demokratie verteidigen; wie und mit wem lassen sich nationale Vorhaben mit den Zielen einer europäischen und globalen Entwicklungs- und Migrationspolitik kompatibel gestalten.

Kurzum, auch bei den Grünen dreht sich nicht alles um Ökologie. Sie als „Ein-Punkt-Partei“ darzustellen, kennzeichnet höchstens noch die Rhetorik ihrer Konkurrenten.