Wie bekannt stirbt jeder Mensch zweimal, erst physisch, dann geistig – wenn niemand mehr an ihn denkt.

Gegen Ende des II. Weltkriegs, bei der Befreiung der Niederlande, starben 1.394 kanadischen Soldaten. Die meisten von ihnen waren im Alter von 18 bis 25 Jahren. Damit ihr zweiter Tod sich Zeit lässt, haben ihnen die Holländer auf dem herrlichen Holterberg in der Provinz Overijssel einen Friedhof eingerichtet.

„Their name liveth for evermore”

Zwar wird man am Eingang mit der üblichen – sagen wir: – Irreführung begrüßt: „Their name liveth for evermore“. Aber der Broschüre des Besucherzentrums soll nicht widersprochen werden: „De Canadese Begraafplaats in Holten is een plek voor bezinning.” Wann immer zu Besuch bei Gea, meiner holländischen Freundin auf dem Holterberg, halte ich mich daran. So auch diesmal.

Alte Kanadier laufen mit mir durch die Gräberreihen. Sie suchen nach Brüdern oder Bekannten, die ihnen noch etwas sagen. Man trifft auf Familien, auf Kinder und Jugendliche. Von ihren Vätern bekommen sie einen kurzen, gleichwohl weitschweifigen Satz zu hören. Das ist auf allen vergleichbaren Begräbnisstätten so, es sei denn, man besucht gefallene deutsche Soldaten, wo dieselben Worte merkwürdiger Weise einen völlig entgegengesetztem Sinn zum Ausdruck bringen.

„Ohne ihren Tod würden wir heute nicht in Glück und Freiheit leben können.“ 

In den vergangenen Jahren befand ich mich zweimal in einer ähnlichen Situation, mal mit meiner fünfzehnjährigen Tochter, mal – ein Jahrzehnt zuvor – mit meinem Sohn. Auch bei meinen väterlichen Worten drehte sich alles um diesen einen Satz. Ein Satz, der es in sich hat, obwohl er schon Millionen mal leicht und luftig dahin gesprochen wurde. Auf allen Soldatenfriedhöfen zum II. Weltkrieg ist er zu hören.

Ein Jugendlicher auf dem Holterberg, der zum Beispiel vor dem Grabstein von „Private R. A. Richards“ aus dem South Saskatchewan Regiment steht, was hört er? Was empfindet er?

Der gemeine Soldat R. A. Richards, von der Geschichte des letzten Jahrhunderts aus der staubigen Prairie Saskatchewans herausgerissen und ins Grab auf dem grünen Holterberg versenkt, dachte sich in seinen letzten Tagen oder Stunden ja keine historische Botschaft aus. Ihm, der sein erwachsenes Leben gerade erst begann, ging es in diesem „damn, fucking war“, so garantiert seine letzten Worte, ums Überleben. Er wollte heil in seine Provinz zurückkehren, wo ihn als Tanzlehrer oder als Mechaniker ein erfolgreiches und, wer weiß, vielleicht sogar glückliches Leben erwartet hätte – mit Liebe und Liebeskummer, mit väterlichen Freuden und Sorgen. Und was sonst noch alles dazugehört.

Gesetzt den Fall, auf seinem Grabstein hätte gestanden Dumbass, don`t think about me, take care of your own life, dann wäre die Wirkung auf meine Kinder wahrscheinlich nachhaltiger gewesen.

Stattdessen mussten sie meine Abstraktion anhören, irgendeine Variante von: „Ohne ihren Tod würden wir heute nicht in Glück und Freiheit leben können“. Kein Zweifel, auch dieser Satz ist wahr.  Sein offensichtlicher pädagogischer Zweck ruiniert sich jedoch selber. Er schüchtert eher ein als dass er befreit und zu etwas Vernünftigem animiert.

Urlaubsgrüße aus Holland: Gegen die Seuche der Vogelschisser reicht es nicht aus, mit Anleihen vom Soldatenfriedhof über Europa zu sprechen.