Mein 68 – Fünfzig Jahre danach

 

 

Studentenrevolte, Club of Rome, Geburt des Internet – 50 Jahre danach: Gedanken zu einer dreifachen Zeitenwende

Tja, 68. Eigentlich sollte mein 68 in Paris beginnen. Leider kam ich zu spät. Frisch nach einem westfälischen Abitur, im Sommer, zwei Monate nach jenem ereignisreichen Mai, war ich im Quartier Latin eingetroffen. Auf den harten Wandbänken des alten „Polly Magoo“, wo ich Französisch paukte und wegen La Patronne die meiste Zeit verbrachte, dort waren nur noch Anekdoten von der jüngsten Erscheinung des revolutionären Geistes zu vernehmen. In dunklen Ecken des Quartiers lagen allerdings noch greifbare Pflastersteine.

Von Schülerdemonstrationen, von Springer- und Straßenbahn-Bockaden abgesehen begann mein 68 erst ein Jahr später: Querbeet-Studium in Frankfurt am Main, I-can-get-no im Kolb-Keller, Straßendemonstrationen im Ho-Ho-Modus,  Redeschlachten im Großen Hörsaal, Palaver und Zigarettenqualm abends am Tresen des Club Voltaire. Kurzum, eine durchschnittliche 68er-Studenten-Biographie, x-mal erzählt. Uninteressant.

Mein „aktives 68“ begann im SB, im Sozialistischen Büro. Hier ein kraushaariges Foto aus dieser Zeit: Sitzung des Arbeitsauschusses in friedlicher Gartenidylle. Auch die Redaktion der Zeischrift „links“, Herausgeber Klaus Vack, residierte auf der weniger revolutionären Seite des Mains, in Offenbach.

Die Mitglieder des Sozialistischen Büros und die Autoren dieser Zeitschrift galten als „unverbesserliche Reformisten“, sowohl bei den maoistischen oder moskautreuen Kaderparteien wie in der äußerst einflussreichen Frankfurter Sponti-Szene.

Nur zur Erinnerung, wer alles zu dieser Szene zählte: Neben verspäteten Existenzialisten und verträumten Situationisten, travailler? jamais, neben Anarchisten, no nation, no border, und Feministinnen, parole, parole, parole, waren die Frankfurter Spontaneisten vor allem im und um den Revolutionären Kampf herum versammelt; Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer – um hier nur die zwei prominentesten Vertreter zu nennen. In seiner Endphase versuchte sich der Revolutionäre Kampf, lotta continua, an der Wiederauferstehung des Proletariats im Rüsselsheimer Opel-Werk – vergeblich, wie überall auf der Welt.

Wir SB-ler bezeichneten uns – sollte ich aus heutiger Sicht nicht besser sagen: wir stilisierten uns? – als unorthodoxe Linke, auch wenn uns letztlich, wie ausnahmslos allen marxistischen Strömungen, der Glaube an einen roten Faden des menschlichen Fortschritts einte.

Obwohl gerade wir Jüngeren uns in den großen Hegel-Vorlesungen Alfred Schmidts tummelten, wollten wir uns nicht mit einem „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ zufrieden geben. Weder die klassische noch eine marxistische Geschichtsphilosophie mit besiegelter Zielerreichung war unser Fall. Gleichwohl, als „undogmatische, unorthodoxe Linke“, als „Neomarxisten“ fühlten wir uns, Stalins und Maos blutigem Höllenreich zum Trotz, aufgefordert, den roten Faden demokratisch weiter zu spinnen.

Und was die Bonner Politik dieser Jahre anging: Auch Willy Brandts sozialliberales Rot, seine Ankündigung, mehr Demokratie zu wagen, reichte uns nicht. Wir trauten uns ohne dessen Segen, wir organisierten „autonome“ Kampagnen. So zum Beispiel im Jahr 1976 den Frankfurter „Pfingstkongress gegen Unterdrückung“. Schon dieser Rundumschlagstitel macht deutlich, wie weit wir uns von einem Denken in Haupt- und Nebenwidersprüchen entfernt hatten. Selbst die damals aufkommenden, teils feministisch teils strukturalistisch eingefärbten Varianten einer „Tripple Oppression“ konnten uns nicht überzeugen.

Auf diesem Kongress diskutierten immerhin über 20.000 Teilnehmer, was vor den späteren Hunderttausendern der Friedens- oder Anti-Atomkraft-Bewegung schon eine ganze Menge war. Zu den prominenten Stimmen des Sozialistischen Büros zählten neben Gewerkschaftlern wie Willy Hoss, Iris Bergmiller, Klaus Kowol oder Heiner Halberstadt vor allem Personen aus der linken Professorenschaft: Oskar Negt, Wolf Dieter Narr, Andreas Buro, Eva Senghaas, Elmar Altvater, Wolfgang Streek und viele andere mehr.

Wie andere linke Organisationen löste sich ab den späten 70er Jahren auch dieses Netzwerk allmählich auf, die meisten SB-Mitglieder begannen früher oder später, sich ausschließlich in Gewerkschaften, in genossenschaftlichen Projekten oder aber in anderen Parteien – SPD, Die Grünen, Die Linke – zu engagieren.

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Wenn in den Medien demnächst an das Jubiläumsjahr der 68er-Generation erinnert wird, ist absehbar, welche Themen kräftig durchgepflügt werden: Antiautoritäre Aktion, RAF, sexuelle Liberalisierung, Pazifismus … Was wir schon immer wussten, wird uns erneut eingetrichtert werden: dass es 1968 nicht allein um eine studentische Altersgruppe ging, sondern um eine Zeitenwende, um einen Mentalitäts- und Perspektivwechsel der ganzen  Gesellschaft.

Mir geht es hier um zwei Aspekte, die auch zum Jubiläumskomplex 68 zählen, aber weniger gegenwärtig sind. Auch sie haben meinen Werdegang geprägt.

1968 wurde von einem italienischen Industriellen, Aurelio Peccei, und einem schottischen OECD-Direktor namens Alexander King ein gewisser Club of Rome gegründet. Eine Vereinigung, die uns Linken anfangs sehr verdächtig schien – dieses Brett, zugegeben, befand sich auch vor meinem Kopf.

Grenzen des Wachstums? Wir rechneten einige Jahre kleinlich nach, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass diese Grenzen dann doch etwas flexibler anzusetzen waren, als es der Club of Rome tat. Doch dann, über moralphilosophische Texte (Hans Jonas, Günther Anders) und nicht zuletzt über erste kursierende Klimatabellen gebeugt, dämmerte uns allmählich, dass auch ein demokratisch-rot durchwirkter Fortschritt sich selber auffressen kann.

Damit war auch die neomarxistische Version von Geschichte an ihr Ende gelangt. Retten was noch zu retten ist, hieß die erste, spontane Devise. Später rückten intelligentere Konzepte von Sustainability ins Zentrum der Debatten. Anders als der konservative Flügel im Club of Rome meinten wir allerdings, dass es eine ökologische und in diesem Sinne nachhaltige Politik nur geben kann, wenn diese immer wieder – gesellschaftlich wie im Weltmaßstab – in neue soziale Balancen eingebettet wird.  „Linksökologisch“ nannten wir das, und dieses Wir nannte sich schließlich – die Grünen.

Was keineswegs alle guthießen. Ich erinnere mich zum Beispiel an Klaus Kowol, Gewerkschaftler aus dem Sauerland, Arbeiter-Intellektueller und Autodidakt alten Stils. (Foto) Bei einem meiner Besuche stellte ich fest, dass er ein Liebhaber und profunder Kenner der Schriften von James Joyce war, insbesondere des „Ulysses“, dessen stream of consciousness ich erst Jahre später zu schätzen verstand.

Mich wunderte damals nur, wie Kowol, der ins Schwärmen kam, wenn er vom rücksichtslosen Bruch seines Helden mit dem irischen Katholizismus erzählte, vor dem eigenen Bruch zurückschreckte. Vom neuen, vom zweiten Bewusstseinsstrom, der vom Jahr 1968 ausging, von einer ökologischen Zeitenwende, war er nicht zu überzeugen – von der Parteigründung der Grünen ganz zu schweigen.

Unsere Wege trennten sich, was für zahlreiche Freunde aus dem Sozialistischen Büro galt. Nicht allein orthodoxe, auch undogmatisch Gläubige können lange fromm bleiben – zuweilen sogar gerade deshalb.

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Der dritte Bewusstseinsstrom des Jahres 1968 ging auch an mir unbeachtet vorbei, zunächst jedenfalls, aber ohne Frage handelt es sich bei diesen Ereignissen um eine Zeitenwende, die diesen Begriff verdienen:

Ab 1968, mitten im Vietnamkrieg und im Zeichen weltweiter Proteste gegen diesen Krieg, wurde von amerikanischen Forschern  – beauftragt und finanziert vom US-Militär – das ARPANET entwickelt, der Vorläufer des heutigen Internet. Paul Baran, D.W. Davies, Ted Nelson und Dutzende andere Wissenschaftler arbeiteten an einem skalenfreien Kommunikationsnetz mit Packet Switching, mit Hypertext, mit interaktiver Rückkanalfähigkeit – und vielen anderen Schwerverständlichkeiten.

Welch Ironie: Die meisten Alt-68er können sich bekanntlich bis heute darunter nichts Rechtes vorstellen, und doch hat diese komplizierte Netzstruktur viel mit ihren antiautoritären Aktionen zu tun. Beeinflusst von Bürgerrechtsbewegungen und vom Californian Dreaming ging es den langhaarigen Pionieren des Internet um mehr als nur um die vom Militär gewünschte effiziente und verlässliche Kommunikation. Es ging ihnen darum, einen offenen und freien Netzzugang sicherzustellen: Kommunikative Hierarchien sollten beseitigt, Kommunikationsmonopole wie in der überkommenen Medienwelt sollten vermieden werden. Ja, diese Burschen trieben es mit dem offenen und egalitärem Netzzugang so weit, dass wir uns bis heute mit negativen Folgen ihrer Topographie und digitalen Technik – heißen sie Cyberkriminalität oder Hate Speech – herumplagen müssen.

Zwei Tendenzen haben die 68er-Impulse des frühen Internet freilich längst konterkariert: Spätestens mit Bill Gates/Microsoft und Steve Jobs/Apple, ohne deren Verdienste um die rasante Durchsetzung der computerbasierten und mobilen Internet-Kommunikation zu bestreiten, wurde erstens die völlige Kommerzialisierung und die monopolistische Formbarkeit auch der digitalen Welt augenfällig – und auf eine Spitze getrieben, die in der Geschichte des modernen Kapitalismus einmalig ist. Nicht weniger offensichtlich ist zweitens der zunehmende geheimdienstliche Zugriff auf das Internet, um welches Regierungssystem es sich auch jeweils handeln mag. Wer heute (zurecht) von den Vorteilen der Digitalisierung spricht, der sollte zu allererst für eine marktwirtschaftliche und demokratische Einbettung der Technologie und Ökonomie des Internets sorgen. Ohne diesen Rahmen geht der freie und gleichberechtigte („neutrale“) Netzzugang – ob für Individuen, Firmen oder Nationen – verloren.

Als Berater verschiedener IT-Unternehmen, ab Mitte der 90er Jahre also, lernte ich noch viele Gesichter kennen, die man gemeinhin zur ersten Generation der Nerds und Digitals zählt. „Netzvisionäre“, die mit leuchtenden Augen ihre Visionen – robotics, swarm & artificial intelligence – anpriesen. Oder erste „Piraten“, die zur Überwindung der Schwächen des repräsentativen Systems – wenn nicht dieses Systems überhaupt – auf Fluency Bits und E-Democracy setzten.

Diesmal war es von Vorteil, ein Zuspätgekommener zu sein. Weder die Apologeten der totalen Transparenz (Eric Schmidt) noch die wachsende Zahl gesellschaftspolitisch ambitionierter Startup-Gründer, deren Ideen letztlich irgendwie auf die Vision einer Weltgemeinschaft im permanenten Video-Conferencing hinauslaufen, können jemanden überzeugen, der 68 eins und 68 zwei hinter sich gebracht hat.

Auch der Ausgang dieser Geschichte ist völlig offen.

 Berlin, im Dezember 2017