Der Nuttenmaler

Großstadt-Expressionismus und sexuelle Liberalisierung

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Ernst Ludwig Kirchner: „Potsdamer Platz“ (1914) Neue Nationalgalerie / Berlin, Gemeinfrei

Nicht allein von Nationalsozialisten als entartet und krankhaft etikettiert, zählt Ludwig Kirchners „Potsdamer Platz“ heute zu den Signets der Sammlung Neue Nationalgalerie. In diesem Gemälde sind charakteristische Ambivalenzen des „Berliner Großstadt-Expressionismus“ versammelt: Eine Straßenszene mit zwei Kokotten, faszinierend-mondän und zugleich spannungsgeladen-aggressiv. Wir sehen Gesichter und Gestalten, die sowohl den Stolz wie das Blasierte, die Vereinzelung wie die Vermassung des urbanen Individuums erkennen lassen. Und die zwei leichten Damen im Vordergrund, die uns aus dem Gleichgewicht bringen und auf die schiefe Ebene des Bildes zu ziehen versuchen, können dafür stehen, worum es im Nervenzentrum aller Metropolen geht – um die Suche nach neuen Reizen, sexuelle eingeschlossen.

Kirchner galt in der tonangebenden Berliner Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg als „Nuttenmaler“ und „Sittenstrolch“. Zusammen mit einigen Kollegen aus der Künstlergruppe „Brücke“ führte er ein so skandalträchtiges wie werbewirksames Leben als Bohème: Absinth- und Drogenrausch, Rotlichtfreundschaften und sexuelle Provokationen. Ein Lebensstil, der speziell in Berlin Schule machen sollte.

Über einige ihrer Tabubrüche können wir heute nur noch schmunzeln: Nackte Maler malen nackte Modelle vor Schilf und See – huch! Anderes wiederum würden wir heute weitaus strenger beurteilen als die kulturpolitischen Meinungsführer jener Jahre, die über das Lotterleben dieser Künstlergruppe donnerten, sich aber ebenfalls gern an den „Fratzen“ und „Püppchen“ aus dem proletarischen Zille-Milieu bedienten.

Ein Künstler, der sich in unseren Tagen neun- oder zehnjährige Mädchen ins Atelier holte, selbst wenn er sie nicht missbrauchen, sondern allein in sexuell aufreizender Pose malen sollte, ob der es zum Star der Neuen Nationalgalerie bringen könnte?

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Wenn man sich fragt, wie es um das Liebesleben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stand, also zu Kirchners Zeiten, muss man einen Zeitraffer wagen, der über zweieinhalb Jahrtausende hinweg reicht.

Über Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika liegt zu Kirchners Zeiten immer noch ein gigantisches Massiv sexueller Verbote und sexueller Tabus. Die ältesten Schichten dieses Massivs führen uns zurück in die Antike, etwa zur platonischen Unterordnung der sexuellen unter die geistige Liebe, zu den Selbstbeherrschungspraktiken der Stoa, zum manichäischen Verbot des Geschlechtsverkehrs.

Darauf baut die stärkste Schicht dieses Massivs auf, das Kirchenchristentum. (Von anderen Weltreligionen, die in puncto Sexualfeindlichkeit dem Christentum in nichts nachstehen, können wir hier absehen.) Nicht den Autoren des Neuen Testaments, sondern den spätantiken Kirchenvätern verdanken wir die endlosen (und äußerst kenntnisreichen) Aufzählungen teuflischer Perversionen, vor denen wir uns hüten sollen. Allein den disziplinierten, auf Zeugung ausgerichteten ehelichen Verkehr lassen sie noch durchgehen – als „erlaubte Sünde“, so Augustinus.

Die sittenstrenge Litanei, durch Reformation und Puritanismus nur geringfügig verändert, wirkt bis weit hinein in die Neuzeit, wo sie sich mit medizinischen, psychatrischen und pädagogischen Schulen verbindet. Diese unterrichten ihr Publikum über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zur gehirnerweichenden Onanie, zur widernatürlichen Homosexualität, zur natürlichen Asexualität der Frau und so weiter. Insbesondere vom französischen, nachrevolutionären Code Pénal abgesehen (1810), prägen solche Auffassungen und kirchlichen Verdikte – insbesondere gegen die „widernatürliche Unzucht“ der Homosexuellen – das Strafrecht der meisten europäischen Staaten, der meisten amerikanischen Bundesstaaten bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die Bohème eines Ludwig Kirchner, die gegen die vorherrschenden Moralvorstellungen im Berlin der Jahrhundertwende aufbegehrte, stellte nur eine hauchdünne Gesellschaftsschicht dar – in den größeren Metropolen Paris, London oder New York nicht anders. Und diese Schicht war weder die erste noch die entscheidende Kraft, die das Massiv sexueller Verbote und Tabus aufbrechen sollte.

Unterhalb dieses Massivs rumorte und revoltierte es von Beginn an – selbstverständlich, denn wie könnte es angesichts eines unterdrückten Naturbedürfnisses anders sein. Nicht zuletzt die lustig herumhurenden Renaissancepäpste bezeugen, dass dieses hochmoralische Massiv immer schon ein Gebilde der Scheinheiligkeit war.

Permanentes Aufbegehren lässt sich zum Beispiel in städtischen und bäuerlichen Fastnachtsfeiern bis ins tiefe Mittelalter verfolgen. Und weit hemmungsloser waren die Freizügigkeiten im Adel und in den Hofgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihren Mätressen, Casanovas und de Sades. Selbst im protestantisch-prüden Preußen unter Wilhelm II. haben „höchste Kreise“ im Jagdschloss Grunewald Orgien gefeiert, gegen die sich die Künstlergelage im Freundeskreis Kirchners wie infantile Doktorspiele ausnahmen.

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Das 20. Jahrhundert bereitete dieser Bigotterie ein Ende, und Berlin war eines der großen Zentren der sexuellen Liberalisierung: Großes Kino und bunte Illustrierte projizieren in Berlins „Goldenen Zwanzigern“ erotische Freizügigkeiten auf die Netzhaut aller sozialen Milieus. Auf Berliner Bühnen und im Film wird der feministische Archetypus einer Anita Berber und Marlene Dietrich fabriziert. In der Schöneberger „Pyramide“ trifft sich mit Claire Walldoff das lesbische Berlin. In dieser Stadt institutionalisiert Magnus Hirschfeld die moderne Sexualforschung. Hier streitet der „Bund für Menschenrechte“ mit Tausenden von Mitgliedern für die Rechte der Homosexuellen.

Vor allem aber kann man Berlin als Geburtsstätte des modernen Sextourismus bezeichnen. Während in anderen Metropolen jener Zeit die Bordellbezirke meist diskret abgeschirmt wurden, boomte hier die Sexindustrie in der ganzen Stadt. Jeden Abend war in rund sechshundert einschlägigen Etablissements – vom erotischen Cabaret über den Sexclub bis hin zur Folterkammer – alles zu haben.

Auch wenn sich das Zentrum der „sexuellen Revolution“ (Wilhelm Reich) nach dem Zweiten Weltkrieg an die West- und Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika verlagerte, ging Berlin deswegen nicht der Atem aus. Kommune I, Gruppensex und die Kinder vom Bahnhof Zoo im Westen, Freikörperbadekultur und von der Stasi gut dokumentierter Sexualverkehr am Prenzlauer Berg wie im ganzen Osten.

Nach der Wende versammelten sich bis zu 1,5 Millionen Besucher aus aller Welt zum Techno-Sound der jährlichen Loveparade. Barbusige Studienrätinnen und Friseusen mit Arschgeweih, Lederfetischisten aus dem bürgerlichen Grunewald und dem proletarischen Moabit, gestylte Kokainkonsumenten und verlotterte Büchsenbiertrinker: Sie alle demonstrierten, dass der Lebensstil des Berliner Großstadt-Expressionismus ein Massenphänomen geworden und in allen sozialen Klassen angekommen war.

Schlussendlich begeisterten sich selbst die in dieser Hinsicht verwöhnten Journalisten der New York Times für die hiesige Party-, Sex- und Drogenszene und vergaben den Titel „Best Club in the World“ an das Berliner Berghain, in dem Ludwig Kirchners Urenkel heute noch ihre „Grenzerfahrungen“ sammeln.

Nun, Grenzerfahrungen sind so eine Sache. Tabus zu brechen macht nicht unbedingt glücklich. So mancher kam aus dem Darkroom und hatte Aids. So mancher herrliche Rausch endete in der eigenen Kotze.

Von den vielen Tabus und Verboten, welche die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts aus dem Weg geräumt hat, haben im Grunde nur zwei überlebt, das Pädophilie- und Gewalttabu. Es ist kaum vorstellbar, dass irgendeine zukünftige Gesellschaft hier auf strafbewehrte Verbote verzichten kann. Wo sexuelles Verhalten mit Gewalt und Erniedrigung, mit Ausbeutung oder Freiheitsberaubung verbunden ist, muss jede Liberalisierung enden.

Einem heutigen Ludwig Kirchner würde im Fall einer Strafanzeige wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht und in den Medien arg zugesetzt werden. Nicht dass er gehängt würde, aber in der Neuen Nationalgalerie würde man ihn auch nicht gern hängen sehen. Dem alten, dem wirklichen Ludwig Kirchner freilich, sollte er sich schuldig gemacht haben, kommen Verjährung und strafmildernde Zeitumstände zugute – er darf, er muss gehängt werden!

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Wie geht es weiter mit der sexuellen Revolution?

Die meisten ihrer Mitspieler, Gäste oder Beobachter wetten auf „Hauptströmung serielle Monogamie“ mit oder ohne Trauschein. Andere Wettgemeinschaften setzen auf Dreierbeziehungen, auf Bisexualität, auf E-Sex und andere „Neosexualitäten“ (Volkmar Sigusch). Wer vor solchen Angeboten und überhaupt vor dem sexuellen Rausch vergangener Jahrzehnte zurückschreckt, der könnte aber auch auf neue sexuelle Enthaltsamkeit (www.asexuality.org)  setzen, der könnte  „zurück zu den alten Familienwerten“ in die Suchmaschine eingeben und rasch viele neue Freunde gewinnen.

Es ist besser, wir enthalten uns jeglicher Spekulation und setzen allein auf die soziologische Skepsis gegenüber Prognosen und Zukunftszenarios. Denn die Frage „Wie weiter mit der sexuellen Revolution?“ ist nicht allein eine komplexe Frage mit einer Vielzahl von Faktoren, angesichts derer die Vorhersage des nächsten Meteoriteneinschlags in Berlin ein Kinderspiel wäre.

Sie ist vor allem eine Frage freier Entscheidungen, denn bei diesen „Faktoren“ handelt es sich um hinterhältige Menschen, deren größte Vorliebe es ist, Prognosen scheitern zu lassen: Sie beobachten sich und streiten darüber, wie Sexualität, Erotik und Liebe verbunden werden können; sie reden darüber und ringen darum, wie die Liebe zum Kind, wie Vater- und Mutterrollen mit außerfamiliären Beziehungen und Leidenschaften vereinbart werden können; sie bejahen das Spiel mit neuen Reizen und Vergnügungen – und verneinen es am nächsten Tag auch wieder.

Und am Ende des 21. Jahrhunderts, das allein ist sicher, wird jede Generation der vorherigen eine lange Nase gedreht haben.