Das Schnittblumenmassaker von Scheremetjewo – Oder: Was ist grüner Fundamentalisms?

Ich erinnere mich an einen bizarren Vorgang auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo im Herbst des Jahres 1985. Vermerken wir diesen Vorgang als Anekdote unter dem Stichwort „grüner Fundamentalismus“.

Vielleicht waren es Lockerungsübungen, die wenig später unter den Namen Perestrojka und Glasnost bekannt wurden. Sie führten dazu, dass irgendeiner in der großen Kommunistischen Partei der Sowjetunion den schmächtigen Bundesvorstand der Grünen 1985 zu Gesprächen einlud.

Jener Unbekannte war sicherlich informiert über die Eskapaden dieser Partei: 1983 Einmarsch einer verkrüppelten Tanne in die parlamentarische Bannmeile; bedauernswerte Sonnenblumen wurden im Deutschen Bundestag verteilt.

Auch die unartigen Bedingungen, welche die Grünen für diesen Moskau-Besuch stellten, insbesondere das Verlangen nach parallelen Gesprächen mit russischen Dissidenten, waren ihm bekannt. Er wird es daher im Politbüro oder Zentralkomitee der KPdSU, wo die Entscheidung fiel, nicht leicht gehabt haben. „Genossen, keine Bange, die meisten dieser Leute sind harmlose Träger von Wollpullovern. Aber sie verstehen sich als Linke! Und denkt bitte daran, eines Tages wird auch der letzte senile Genosse aus unseren deutschen Bruderparteien verstorben sein. Wer weiß, wozu wir diese junge Partei dann gebrauchen können!“

So ungefähr wird sich das Motiv zur Einladung angehört haben.

Hätte es die skurrile Begrüßung unserer vierköpfigen Delegation (Ditfurth, Trampert, Beckmann, Kostede) auf dem Flughafen Scheremetjewo nicht gegeben, dann gäbe es von dieser Reise eigentlich nichts zu berichten. Aus dem erhofften Treffen mit Gorbatschow wurde nichts; diplomatisches Geschwafel im Außenministerium; von Jelzin gab es immerhin einen zornigen, zackigen Monolog; zornig wahrscheinlich deshalb, weil er von Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne zu dieser Zeit gerade „trocken“ gelegt war. Schließlich, an einer langen Tafel und im „freundschaftlichen Dialog“ mit zahlreichen sowjetischen Wissenschaftlern und Partei-Funktionären gab es nach eitlen Statements zur Weltlage leider auch keinen Wodka.

Allerdings dürften sich die Russen, sofern noch wach, gewundert haben, dass sich die deutsche Ökologie- und Friedensbewegung bei allein vier Leuten bereits in vier unterschiedliche Richtungen bewegen konnte – fundamentalistisch, marxistisch, plebiszitär und parlamentarisch orientiert. Anscheinend, so werden sie gedacht haben, handelt es sich um eine merkwürdige Partei, die mit vier Flügeln fliegt.

Auch von den Ritualen offizieller Besuchsprogramme – Bolschoi-Theater, Lenin-Mausoleum, Kaviar-Buffet, internationale Pressekonferenz – weiß man genug, als dass darüber berichtet werden müsste. Nächtens, nach endloser Suche zwischen kalten Plattenbauten und nach zaghaftem Anklopfen, warfen zwei von uns schlanke Pakete in vorsichtig sich öffnende Fenster- und Türspalte. (Ich hoffe noch heute, dass unser Informationsmaterial in die richtigen Hände kam, und dass solche konspirativen Aktionen niemanden in die Bredouille brachte.)  Im Grunde waren es allein die Kontakte mit Dissidenten und die Gespräche mit der Memorial-Gruppe, die den Moskau-Besuch lohnten.

Doch nun zurück zu unserer Ankunft auf dem Moskauer Flughafen, wo wir zu Beginn natürlich auf das Herzlichste von einer hochrangigen ZK-Delegation begrüßt wurden. Die Namen auf der Gegenseite sind mir leider entfallen, allein die Lächerlichkeit einer einzigen Szene ist in lebhafter Erinnerung:

Der Leiter der ZK-Delegation, ein vornehmer älterer Herr, will Jutta Ditfurth einen prächtigen Blumenstrauß überreichen – als diese mit einem etwas patzigen Unterton ablehnt: „Nein danke, die sind ja alle tot. Schnittblumen mag ich nicht.“

Verdutzt schaute der Delegationsleiter seinen Übersetzer an, einen kleinen, rundlichen Mann, der jetzt arg ins Schwitzen geriet. Wahrscheinlich unter Auslassen des Untertons versuchte dieser, seiner Aufgabe möglichst gerecht zu werden. Sicherheitshalber fragte er aber mehrmals auf Deutsch nach, wer genau denn bitteschön „tot“ sei und was es denn, bitteschön, mit den „geschnittenen Blumen“ auf sich habe.

Welche einzelnen Worte in dem kurzen Dreier-Gespräch zwischen dem Übersetzer, dem Delegationsleiter und Jutta Ditfurth hin und her gingen, will ich nicht beschwören. Aber es handelte sich offensichtlich um eine existenzielle Frage, die zur Sprache kam: um eine an und für sich glückliche Flora und Fauna, um ein trauriges Exempel unseres Gemetzels an der lebendigen Natur. Kein noch so bunter Strauß konnte Jutta über die Trostlosigkeit lebloser Schnittblumen hinwegtäuschen.

Und obwohl ich kein Russisch verstehe, meine ich, in der russischen Weitergabe des Übersetzers an seine mächtigen Landsleute auch ein Wort gehört zu haben, das unserem deutschen „Massaker“ recht ähnlich klingt.

Wie auch immer, der Blumenstrauß, er begann sich nun tatsächlich unter heftigem Zittern ins Letale zu verabschieden, wurde innerhalb der russischen Delegation von einer zur nächstniedrigen Charge weitergereicht, bis er endlich in der hintersten Reihe hinter dem Rücken eines (nicht allein metaphorisch) zu Tode erblassten Bürokraten verschwand. Ich vermute, es handelte sich um den Verantwortlichen aus der Protokollabteilung des ZK.

Den Herren aus der russischen Delegation, alle in einem Alter, dass sie noch selber Dschugaschwilis finstere Zeiten überleben mussten, war der plötzliche Erkenntnisschock anzusehen. Sie waren wahrscheinlich die einzigen unserer offiziellen Gesprächspartner, die eine Ahnung davon bekamen, wie tiefgreifend die „ökologische Zeitenwende“ sein musste, von der die Grünen in den folgenden Tagen so freigebig reden sollten. Denn gleich ob als Täter, Opfer oder Zuschauer – diese Herren hatten so ihre eigenen Erfahrungen und Assoziationen, was es bedeutet, wenn von Gemetzeln, von Massakern die Rede war. Da kannten sie sich aus. Da musste doch – Schnittblumen hin oder her – wirklich etwas geschehen sein, was ihrem Weltbild bislang entgangen war.

Allen späteren Anfeindungen zum Trotz: Jutta Ditfurths historisches Verdienst, nämlich dass uns in den Moskauer Tagen weitere tote Schnittblumen erspart blieben, soll nicht unerwähnt bleiben – auch wenn sie später der Partei den Rücken zukehrte. Was ich gut verstehe, da die Grünen auf späteren Parteitagen nicht weniger Blumen massakrieren sollten als alle anderen Parteien.