Kurfürstendamm / Berlin – Zerstörung und Erneuerung eines Boulevards

Hoch über unseren Köpfen, Ecke Kurfürstendamm – Joachimstaler Straße, versteckt sich seit 2002 eine zweiteilige Aluminium-Skulptur, „Das Urteil des Paris“ von Markus Lüpertz. Drei etwas korpulent geratene Göttinnen, Hera, Athene und Aphrodite, glänzen im letzten Abendlicht. Gehen wir ein paar Schritte in die Joachimstaler hinein, erkennen wir auch den trojanischen Königssohn, Paris, zwei Stockwerke tiefer. Zerknirscht schaut er drein. Wegen der gebogenen Fassade des Gebäudes kann er die drei Grazien über ihm nicht sehen. Und ob er hören kann, was ihm die Liebesgöttin zuruft, geht im Straßenlärm unter.

Trotz dieser unglücklichen Positionierung sind wir dem Bauunternehmer und Kunstsammler Hans Grothe, dem die Skulptur gehört, zu Dank verpflichtet. Denn anderen Mäzenen, Stadtbaumeistern oder Kommunalpolitikern ist die Wahl der Skulpturen und künstlerischen Exponate für den Kurfürstendamm, was jeder Spaziergang verrät, allzu häufig missglückt. Hier jedoch haben wir es mit archaischen Reizen zu tun, mit denen jeder geschichtsträchtige Boulevard spielen muss – Macht, Reichtum, Schönheit.

Ob eine Metropole als urban oder gar weltstädtisch angesehen wird, entscheidet sich häufig auf ihren zentralen Boulevards. Das wiedervereinigte Berlin hat deren drei, den Kurfürstendamm als Abglanz des alten Westberlins, Unter den Linden als preußische Reminiszenz, die (vergeblich) nach Karl Marx umbenannte Stalinallee im Osten.

Einfallschneisen der Moderne

Großstädtische Boulevards, Avenuen oder Promenaden spielten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle für die kulturelle und technologische Modernisierung. Was eine geistreiche Beschäftigung war, die sich auf Shopping Miles und inmitten von  Blechlawinen nicht so leicht wiederholen lässt. Ob es sich überhaupt lohnt, die Frage zu stellen, welche Rolle der Boulevard in Zukunft noch spielen kann?

Vergewissern wir uns kurz seiner historischen Funktion. Selbst wir, Spaziergänger des Internetzeitalters, ausgerüstet mit Google Maps und Street View, können das Initiationserlebnis der urbanen Modernisierung noch nachempfinden. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten – Haussmanns Pariser Boulevards entstehen von 1852 bis 1870, die Wiener Ringstraße wird 1865 eingeweiht – setzt sich in vielen Köpfen Europas ein radikal neues Straßenbild fest, die Idee der modernen Großstadt.

Städtische Wallanlagen, militärisch längst überholt, werden planiert. Sie verwandeln sich in großzügige Straßen- und Sichtachsen. Der Blick wird nicht länger von mittelalterlich verwinkelten Stadtvierteln, von proletarischen Massenquartieren verstellt. Straßen- und Sichtachsen, auf denen dann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten neue zivilisatorische und egalitäre Standards ins Bewusstsein der Zeitgenossen strömen: architektonische, hygienische und sanitäre Innovationen, Elektrifizierung, Massenmedien, Automobilisierung. Wobei wir die Kehrseiten solcher Fortschritte nicht unerwähnt lassen sollten, zum Beispiel die Schreihälse der Boulevardpresse oder diverse Schadstoffe, deren globale Folgen noch unaufgeklärt in weiter Ferne liegen.

Gibt das Bürgertum anfangs auf dem Trottoir den Ton an, so mischen sich mit zunehmendem Verkehr auch niedere Klassen und andere Hautfarben in das anonyme Gewühl. Sie erspähen dort nicht alleine neue Lebensperspektiven, sondern es verstärkt sich ihr Wille, von diesen nicht ausgeschlossen zu sein – der Boulevard als kulturelles und politisches Forum. Keine Utopie, keine Avantgarde, keine Reformbewegung oder Revolution im 20. Jahrhundert, die nicht in den anliegenden Straßencafés hin und her beredet wurde.

Belletristik und frühe Soziologie haben sich mit einer besonderen Figur des Boulevards beschäftigt, dem Flaneur. Zwar wurde das urbane Lustwandeln bei Baudelaire, Simmel oder Kracauer recht unterschiedlich gedeutet – idealisierend, melancholisch, kritisch. Doch war diesen Edelfedern die Rolle der belebten Straßen- und Sichtachsen, ob nun Boulevard oder Corso, Avenue, Promenade oder Prospekt genannt, auf deren Trottoir ihr Flaneur zu wandeln hatte, immer bewusst – er flanierte in der Einfallschneise der Moderne. Ihr Flaneur ist entgegen einer späteren Sinnverschiebung des Begriffs kein bloßer Müßiggänger, der sich passiv treiben lässt und nur genießt. „Der Flaneur macht bekanntlich Studien“, so Walter Benjamin.

Nun ja, vergangene Zeiten. Weit abgeschlagen hinter Internet und anderen Massenmedien spielt der Boulevard als öffentliches Forum und Modernisierungsschleuse nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Heute beschreibt die Gattung Gens des Lettres in erster Linie den Verfall, die Zerstörung, den „Untergang des Boulevards“. Was Patrick Modiano am Champs Elysées oder Wolf Jobst Siedler am Berliner Kurfürstendamm beklagten, zählt mittlerweile zum festen Bestandteil des feuilletonistischen Repertoires.

Meist bekommen wir dort ein Untergangsszenario beschrieben, das übrigens nicht allein die Prachtstraßen Europas betrifft. Ob Broadway oder Fifth Avenue in New York, ob Paseo de la Reforma in Mexico City oder Tokios Omotesando – weltweit beklagen Kulturkritiker seit Jahrzehnten die zunehmende Konformität, die zunehmende „Gesichtslosigkeit“ der großen Boulevards. Meist sind es sündhafte Immobilienpreise, engstirnige Politiker und bürokratische Stadtplaner, banausenhafte Architekten und Bauherren, die als Ursachen und Schuldige für dieses Szenario herhalten müssen.

Was und wer auch immer: Wo es früher ein ausgewogenes Verhältnis gab zwischen Geschäftswelt und Kulturleben, zwischen Kauf- und Bürohaus einerseits, Bühne, Tanzhalle und Varieté andererseits, dort beherrschen heute globale Modehäuser, Luxus-Flagship-Stores, Restaurant- und Fastfood-Ketten das Straßenbild. Statt des klassischen Flaneurs sehen wir Käufer- und Touristenmassen, die sich durchs Verkehrschaos quälen.

So und nicht anders geht es heute auf dem Berliner Kurfürstendamm zu. Aber eine kurze Rückblende kann zeigen: Obwohl dieser Boulevard in seinen bald 150 Lebensjahren höchst ungleiche Entwicklungsetappen hinter sich bringen musste, blieb er sich in einer Hinsicht recht treu.

Die große Linie

Der Ku`damm, historisch gesehen, steht im scharfen Kontrast zu hässlichen Seiten der deutschen Geschichte. Schon das Verkürzen und Verspotten seines Namens demonstriert, dass die Alt-Berliner keinen großen Respekt vor prunksüchtigen und autoritären Herrschern und Herrenreitern hatten – in diesem Fall vor den preußischen Kurfürsten und Königen, die für ihren festlichen Ausritt in den Grunewald im 16. Jahrhundert einen Knüppeldamm durch Morast und Sumpflandschaft legen ließen.

Otto von Bismarck, Gründer und Kanzler des Deutschen Reiches, begeistert vom Pariser Champs Élysées, leitete im Jahr 1873 den modernen Ausbau des Kurfürstendamms in die Wege. Auch er hätte sich nicht träumen lassen, dass eines Tages brotlose Künstler, sogar rauchende Weiber in Männerkleidung auf seinem Boulevard herumtanzen würden. Allein der Gedanke, dass sich in den Cafés und Theatern längs seiner Prachtstraße die großen Kritiker des preußischen Untertanengeistes, die geistigen Väter eines demokratischen Deutschland breit machen würden – heißen sie Kurt Tucholsky, Erich Mühsam oder Friedrich Naumann – hätte den Eisernen Kanzler zur Weißglut gebracht.

Zwar gelang es der herrschenden Hohenzollern-Dynastie in Gestalt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und um diese Kirche herum, ein neoromanisches, sprich mittelalterliches Ensemble zu platzieren. Doch der Kurfürstendamm, das westliche, dem freigeistigen Europa zugewandte Gesicht Berlins, wurde vom liberalen und jüdischen Bürgertum geprägt, das sich in den Gründerjahren und in späteren Jahrzehnten an diesem Boulevard ansiedelte.

Kein Wunder, dass der Ku`damm auch ein Dorn im Auge der Nationalsozialisten war. Die Juden und die kritische Intelligenz wurden terrorisiert, ermordet oder vertrieben. Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 wurden als „Kurfürstendamm-Erscheinungen“ tituliert. Und dass dieser Boulevard in Hitlers gigantischem Plan zur „Welthauptstadt Germania“ keine Rolle spielte, versteht sich von selbst.

Statt Gigantomanie und Germania folgten Schutt und Asche. Nur jedes sechste Haus am Kurfürstendamm konnte – mehr oder weniger zerstört – die Bombenteppiche der alliierten Flugzeugstaffeln im Zweiten Weltkrieg überleben. Was sich bis heute in disparaten Provisorien und Lückenfüllern widerspiegelt. Von einem Stadtführer bekämen wir immer wieder zu hören: „An dieser Stelle befand sich …“

Und dennoch, nachkriegs lebte der Ku`damm rasch wieder auf, ja er wurde bald zum „Schaufenster des Westens“, womit wir bei einer weiteren wichtigen Kontrastfunktion angelangt wären. Denn die roten, die kommunistischen Preußen, die nun im Osten der geteilten Stadt herrschten, konnten ihr Volk nur mit Mauer und Schießbefehl davon abhalten, zum Boulevard eines heiteren Wohlstands überzulaufen. Schon in der allerersten Nacht, als diese Mauer nach 28 Jahren fiel, feierte dieses Volk seine neue Freiheit – keine Frage wo, natürlich auf dem Kurfürstendamm.

Was die große Linie der Geschichte angeht, hat sich dieser ehemalige Knüppeldamm also gut durch die deutschen Sümpfe geschlagen. Respekt. Und auch seiner jüngsten Etappe nach dem Mauerfall kann man, trotz Einkaufsmeilen-Monotonie, etwas Positives abgewinnen. Ein Entwicklungssprung, der viel mit Migration, Globalisierung und Massentourismus zu tun hat. Bummeln wir den Ku’damm hoch, um dies zu verdeutlichen.

Man muss kein Sprachkundler sein, um schon nach wenigen Minuten herauszuhören, dass man nicht durchs alte Berlin, sondern durchs babylonische bummelt. An sonnigen Nachmittagen stößt man locker auf dreißig Fremdsprachen und auf ein Dutzend süd- und norddeutsche Dialekte, ohne auch nur einen einzigen Original-Berliner zu Gehör zu bekommen. Kein „Dit is dufte“, kein rüdes „Mach ma dalli“; Stimmen, die im Ku`damm-Kiez ausgestorben sind.

Ähnliches signalisieren uns die Labels und Logos am Kurfürstendamm. Nicht allein im Apple Store und bei anderen Trendsettern, selbst im altehrwürdigen KaDeWe, es gehört Österreichern, Italienern und Thailändern, trifft internationale Kundschaft auf eine globalisierte Warenwelt. Selbst der offizielle Sammelname für so traditionsreiche Stadtteile wie Charlottenburg oder Wilmersdorf, links und rechts des Kurfürstendamms gelegen, kommt uns heute wie selbstverständlich in der Lingua franca der Globalisierung über die Lippen: „City West“.

Kurzum: Im Großen und Ganzen ist der Kurfürstendamm ein für neue nationalistische Stimmungen und Aufmärsche ungeeignetes, weltoffenes Pflaster geblieben – damit aber leider auch ein lohnendes Anschlagsziel für die neuen Weltterroristen, wie der Weihnachtsmarkt-Anschlag auf dem nahegelegenen Breitscheid-Platz gezeigt hat.

Mythos Westberlin

Wann immer in den vergangenen Jahren Prestigeprojekte auf dem Kurfürstendamm oder um ihn herum verwirklicht wurden – Hochhäuser wie Upper West, das Waldorf Astoria, Event-Shopping im Bikini Berlin, Luxus-Appartments im Haus Cumberland –, immer dann hieß es sofort: „Der alte Westen lebt!“ Als könnte der Mythos des alten Westberlin aus Beton oder Glasfassaden wieder auferstehen.

Wobei es den Akteuren in lokaler Wirtschaft und Politik natürlich weniger um Wiedererweckung oder Stadtutopie geht. Der Alltag von Lokalpolitikern und Verwaltungsbeamten ist ohnehin von bürokratischen Leitlinien für Traufhöhen, Vorschriften zur Straßenbegrünung oder von Gehwegbelagsverordnungen geprägt. Auch die organisierte Geschäftswelt: zum Beispiel die „Arbeitsgemeinschaft City“, in der sich rund 400 Unternehmer und Gewerbetreibende am Boulevard, Anwaltskanzleien und Arztpraxen, Hoteliers und Gastronomen, Immobilienhändler und Immobilienverwalter zusammen getan haben – auch die Geschäftswelt hat nichts Mythologisches vor, wenn sie sich als Verein organisiert, um in der Verkehrs– und Straßengestaltung gemeinsame Interessen besser durchsetzen zu können.

Aber immerhin, ihnen allen dämmerte im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte: Berlins Westen darf nicht von seiner preußischen Mitte, nicht vom Regierungsviertel, nicht von seinen jugendlichen Szenequartieren ins Abseits gedrängt werden. Auch der Westen der Stadt muss einen hochwertigen Beitrag leisten, damit ganz Berlin im touristischen wie im wirtschaftlichen Wettbewerb der Metropolen weiterhin zur europäischen Spitzengruppe zählt.

Ein Realismus, den jeder Blick auf die konkurrierenden Stadtviertel bestätigt: Jährlich pilgern Hunderttausende von Jugendlichen aus Europa und Übersee durch Kreuzberg oder Friedrichshain – die Chill-out-Zonen der Generation easyJet. Täglich suchen ganze Hundertschaften von Künstlern und Lebenskünstlern, von Internet-Freaks und Studenten aus aller Welt in Wedding, Pankow und Neukölln nach den allerletzten bezahlbaren Lofts und Hinterhof-Zimmern. Mittlerweile handelt es sich um eine ganze Armee von „Kreativen“, die in diesen Quartieren experimentiert, scheitert und wieder von neuem anfängt. Man wird dieses Treiben eines Tages mit den „Goldenen Zwanziger Jahren“ des vergangenen Jahrhunderts vergleichen.

Die Elterngeneration hingegen zieht es eher nach Mitte, ins „historisch-kulturelle Zentrum“ der Stadt, sei es auf die Pfade der Preußenkultur – Museumsinsel, Gendarmenmarkt, Scheunenviertel –, sei es hin zu den Orten und Spuren der Nazi-Gräuel oder zu den letzten Relikten des Kalten Krieges.  Es ist bekannt, wie gerade das steinern-museale Erbe aus Deutschlands zwei Diktaturen den Touristenstrom in Bewegung hält.

Attraktiv ist auch das „neue Regierungsviertel“. Die Baukran-Wälder der 90er Jahre sind längst verschwunden, nun sieht man modernistisch-pompöse Repräsentationsarchitektur von der Spree bis hinauf zu den Fassaden des Potsdamer Platzes.  Konzern- und Verbandszentralen, Medien und Agenturen für alles Mögliche lassen sich in dieser repräsentativen Gegend ebenfalls gern nieder.

Wenn aber die Schwerpunkte von Unterhaltung und Kultur, von Geschichte und Repräsentation in Berlin derart verteilt sind, was bleibt dann noch für die City West? Und welche Rolle kann insbesondere deren zentrales Quartier rund um den Kurfürstendamm noch spielen?

Sicherlich, noch gibt es im Westen Angebote auf hohem Niveau: Die „Schaubühne“, eins der führenden Theater für Gegenwartsdramatik in Europa; die Galeristen-Szene und das Auktionshaus „Villa Griesebach“, ein Museum auf Zeit, das mit Klassischer Moderne an die Berliner Tradition der jüdischen Kunsthändler in den zwanziger Jahren anknüpft; eindrucksvolle Fotoausstellungen bei „C/O“; das „Literaturhaus“ in der Fasanenstraße. Und nicht zu vergessen die möglicherweise profitabelste Aktiengesellschaft der Stadt, die „Berliner Zoo AG“, wo inmitten von Lennés Landschaftsarchitektur jährlich 10.000 Tiere rund 1,5 Millionen Menschen anstarren müssen.

Weitere Attraktionen ließen sich aufzählen, wie schwach jedoch die kulturelle und touristische Bindewirkung Westberlins mittlerweile geworden ist, lässt sich jeden Morgen leicht studieren: Touristen aus den weit über einhundert Hotels und Pensionen rund um den Kurfürstendamm strömen zu den Bussen, zu den U- und S-Bahnen, die sie zu den genannten historischen und politisch-repräsentativen Highlights der Stadt transportieren. Abends findet ein entsprechender Exodus deutscher und ausländischer Jugendlicher in Richtung der Szenequartiere statt.

Viele Touristen und Anwohner werden sich diesen Spagat bei kommenden Besuchen oder zukünftigen Wohnort-Entscheidungen ersparen.

Bleibt der Kurfürstendamm als Shopping Mile. Man wird in Westberlin keine Imagebroschüre finden, in welcher der Ku`damm nicht als „weltbekannter Einkaufsboulevard“ gepriesen wird. Noch fließt das Geld, aber man täusche sich nicht. Spätestens ab Adenauerplatz, wo rachsüchtige Berliner Politiker den ungeliebten Altkanzler als Zwerg skulptieren ließen, also ungefähr ab halber Strecke machen regelmäßige Räumungsverkäufe deutlich: Eine Zukunftsgarantie bietet die Shopping-Funktion nicht. Ab hier geht Bismarcks Prachtstraße allmählich die Pracht aus, bis sie dann oben am S-Bahnhof Halensee auf das Niveau eines blechverkleideten Baumarkts herabsinkt.

Irgendwann wirkt noch die erfolgreichste Einkaufsmeile ohne gleichgewichtige urbane Kontrapunkte monoton, langweilig. Je dominanter das Bild der Einkaufsmeile, umso größer das Risiko, an ihren eigenen Erfolgen zu kollabieren und Widerstand zu provozieren. Dieses Stadium haben der Kurfürstendamm und viele seiner berühmten Verwandten in aller Welt längst erreicht.

Blockade-Koalitionen

Ganz anders dagegen der Leitstern der modernen Stadtplanung, sowohl der wissenschaftlich-forschenden wie der praktisch-politischen. Er schreit schon seit Jahrzehnten nach „mehr Urbanität“. Es gilt, soviel wie möglich von den letzten Resten der historischen Stadt und des alten Stadtlebens zu retten. Wo dies nicht ausreicht oder nicht möglich ist, wird versucht, urbane Erlebnisse neu zu inszenieren, sei es als „London Eye“ oder „Lichterfest Berlin“.

Die technokratischen Stadtutopien des 20. Jahrhunderts, die monofunktionale Aufteilung der Stadtgebiete, die autogerechten Verbindungen zwischen Wohn-, Arbeits- und Erholungsräumen, die corbusieischen Skizzen für solitäre Hochhaus-Komplexe auf Rundum-Grünflächen, das modernistische Aufputzen historisch gewachsener Straßenzüge – all diese Ideen und Konzepte liegen heute tief in den Bibliotheken der Urbanistik-Institute begraben.

Sicherlich, ob und wie weit die urbane Wende der Stadtplanung überhaupt zum Tragen kommen konnte und kann, ist angesichts der vorgegebenen Beton- und Asphaltstrukturen, angesichts Not leidender Stadtkassen, angesichts retardierter Mentalitäten in Verwaltung und vielen Bevölkerungsschichten eine andere Frage.

Ohne zivilgesellschaftlichen Widerstand hätte es diese Wende der Stadtplanung ohnehin nicht gegeben: Umweltschützer, die von einem grünen, autofreien Fahrrad- und Fußgänger-Boulevard schwärmen; um ihre Kinder besorgte Eltern, die gegen einen mörderischen Straßenverkehr oder andere Gefährdungslagen demonstrieren; Bürgerinitiativen, die gegen die Verdrängung traditionsreicher Bühnen, Kinos oder Cafés protestieren – allesamt Flaneure, die sich mit dem Studium von Schaufenstern und Automarken nicht zufrieden geben wollen.

Protestaktionen, die sich, sei es als Flashmob oder als „sachdienlicher Hinweis“, in kürzester Zeit übers Internet organisieren lassen. Benjamins Flaneur kann heutzutage als digitaler Flaneur beileibe mehr als nur „studieren“. E-Partizipation auf dem Trottoir.

Der potenteste Akteur am Boulevard ist ohne Zweifel die Geschäftswelt. Ihre Interessengemeinschaften erscheinen von außen gesehen als homogene, durchsetzungsfähige Kraft, und tatsächlich haben sie über viele Jahrzehnte das Erscheinungsbild des Boulevards entscheidend geprägt.

Doch auch der Geschäftswelt wird klar, dass es nicht weitergehen kann wie bisher. Wo sie sich trifft, lautet ihr wichtigster Tagesordnungspunkt: „Urbane Einkaufswelten schaffen“. Die Smarten unter den Managern, mit soliden Parametern für Nachhaltigkeit vertraut, wissen seit langem: Eine reine Shopping Mile würde der Profitabilität ihrer Anlagen langfristig schaden. Zudem stehen sehr viele Unternehmen und Dienstleistungsanbieter unter dem Druck des Internet und Online-Handels. Wenn sie in ihren Broschüren und auf ihren Websites den Face-to-Face-Kontakt hervorheben, wenn sie für ihren exquisiten Standort und die „urbane Unterhaltungs- und Abenteuerwelt“ des Ku`damms schwärmen, setzen sie sich selber unter Handlungsdruck.

Sobald sie zur Tat schreiten, wird jedoch offenkundig, wie konträr die Standpunkte innerhalb dieser Interessengemeinschaften häufig sind. Wo die einen am liebsten den Individualverkehr vom Boulevard vertreiben, auf  kostenlose E-Busse oder Sharing-Modelle umstellen würden, da meinen die anderen, sie könnten ohne Parkplätze für ihre Klientel in unmittelbarer Geschäftsnähe gleich Insolvenz anmelden. Wo die Großen für neue Immobilienkomplexe plädieren, sehen sich viele Kleinere sofort um ihre Existenz gebracht.

Eine Blockade-Situation, die sich in der Politik widerspiegelt und dort, bislang jedenfalls, weiter zugespitzt wurde. Ohnehin verhindert der Abstieg vom 60-Milliarden-Euro-Berg der Berliner Landesschulden große Sprünge in Stadtentwicklung und Verkehrspolitik. Aber vor allem in den Regierungsperioden der Großen Koalition herrschte ein Pragmatismus vor, der den Status auf dem Kurfürstendamm und um ihn herum vor möglichen Kollateralschäden urbaner Utopien und Wünsche gut zu schützen wusste.

Im Ergebnis laufen solche Blockade-Koalitionen, die gleichwohl unter dem Banner „mehr Urbanität am Boulevard“ auftreten, auf die gewöhnlichen Bedürfnisse der Freizeitgesellschaft hinaus: Sommerfeste mit Disco-Pop und Ramsch-Büdchen, Marathon und Halbmarathon, öffentliche Modenschau für die Dame, Oldtimer-Treffen für den Herrn, Ponyreiten für das Kind, „Lange Nacht“ von weiß Gott was.

Erste Signale

Den Verantwortlichen fürs City Management und City Marketing ist natürlich bewusst, dass mit solchen Urbanitätssurrogaten kein Preis im Schönheitswettbewerb der Metropolen gewonnen werden kann. Um einen Schönheitswettbewerb handelt es sich ohnehin nicht – jedenfalls nicht mehr. Das mag in den Anfangsjahren der modernen Großstadt der Fall gewesen sein, als das Bürgertum Macht, Schönheit und Reichtum am Boulevard schon allein deshalb inszenierte, um die fürstliche oder königliche Residenz in den Schatten zu stellen.

Heute geht es im Wettbewerb der Metropolen brutaler zu. Global agierende Investmentfonds und internationale Finanzströme müssen im Wettbewerb mit anderen Städten angezapft werden; Headquarter von Konzernen, von nationalen und internationalen Verbänden und Organisationen müssen im Wettbewerb angelockt und gebunden werden; die „kreative Klasse“ in den florierenden Wirtschaftsbranchen muss im Wettbewerb gewonnen und unterhalten werden. Da darf man sich nicht mit Rummel und Fummel zufrieden geben. Eine Metropole oder gar „Weltmetropole“, die es an ihren großen Sichtachsen nicht schafft, die Aufmerksamkeitsschwelle nationaler und globaler Medien mit positiven Nachrichten zu überschreiten, wird diesen Titel irgendwann verlieren.

Wie am Anfang verrät uns am Ende ein Künstler, wie dies gelingen könnte. Wir sind am Rathenauplatz angelangt, wo der stolze Kurfürstendamm endgültig auf eine Autobahn-Zufahrt degradiert wird. Mitten auf dem Platz steht eine zweite Großskulptur, die wie jene drei nackten Göttinnen unsere volle Aufmerksamkeit verdient: „2 Beton-Cadillacs“ von Wolf Vostell. Zwei erbarmungslos einbetonierte Luxus-Karossen, die 1987, zur 750-Jahr-Feier Berlins, friedliebende Automobilisten wie radikale PS-Fetischisten auf die Palme brachten.

Vostells kritischer Denkanstoß hat eine aktuelle Pointe bekommen. Das Fahrrad-Gesetz des neuen Berliner Senats (diesmal rot-rot-grün und damit etwas weniger selbstblockiert als eine Große Koalition) soll Berlin in einhundert Kilometern Länge breite und sichere Radschnellwege und Grüne Wellen geben. Auch in der City West würden dadurch viele Spuren und Parkplätze für Autos entfallen. Eine Initiative, die sehr gut zu den Plänen der E-Mobility-Fraktion und der Carsharing-Freunde in der Geschäftswelt passen würde. Ob Politik und Wirtschaft ihre ideologischen Vorbehalte überwinden können und – zumindest verkehrspolitisch – eine Erneuerung des Kurfürstendamms in die Wege leiten können?

Wie die City West nicht als „Museum des alten Westberlins“ überleben kann, so darf man sich auch die Zukunft des Kurfürstendamms nicht als „Wiederauferstehung“ alter Traditionen vorstellen. Ein neues Stadt- und Straßenleben lässt sich selbstverständlich allein im Kontext des 21. Jahrhunderts denken.

Um es abschließend etwas plakativ zu formulieren: Als ein „Schaufenster für Nachhaltigkeit“ nicht allein in ökologischer, sondern auch in urbaner, technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht, könnte der Boulevard in eine neue, zeitgemäße Rolle finden. Zugegeben, Fahrrad-Gesetz oder E-Mobility sind nur erste Signale für eine Erneuerung, die diesen Namen auch verdient. Signale jedoch, die nachdenklich machen, ob die gängigen Szenarien zum „Untergang des Boulevards“ in Feuilleton und Kulturkritik nicht doch etwas voreilig waren.

  • Berlin, 21. April 2017 – In diesem Essay, auf der Website metropolitan-transfer.com publiziert, sind verschiedene Recherchen, Gespräche und Beiträge eingeflossen, die bereits auf der (2016 eingestellten) Website kudamm.tips veröffentlicht wurden. Ein Nachdruck in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen erfordert die schriftliche Zustimmung des Autors.