Tango-Metropole Berlin

Eigensinn und Wandel einer globalen Gemeinschaft – von Norbert Kostede und Heike Walk

In diesem Berliner Sommer folgt ein Tango-Festival auf das nächste. Jede Woche gibt es über fünfzig Orte, an denen regelmäßig Tango getanzt wird. Berlin wird in dieser Hinsicht nur von der Geburtsstadt des Tangos übertroffen, wobei Gran Buenos Aires eine 3,7-fach höhere Einwohnerzahl aufweist und die Tango-Reisenden aus aller Welt zu bedienen hat. So verwundert es nicht, dass in Zeitungsartikeln, Büchern oder TV-Dokumentationen, die sich über das Mysterium der weltweiten Tango-Renaissance auslassen, auch die deutsche Hauptstadt immer wieder als „Tango-Metropole“ beschrieben wird.

Nach Insider-Schätzungen zählen in Berlin 4.000 Tänzer und Tänzerinnen zu den „Permanenten“, die es mindestens einmal pro Woche aufs Parkett zieht– darunter nicht wenige Tangosüchtige, die fast täglich ihre Ochos oder Cruzadas zaubern. Hinzu kommen  bis zu zwanzigtausend Männer und Frauen, die „ab und zu“ tanzen, also in Monats- oder Quartalsabständen, je nach Jahressaison oder Lebenslage. Wobei das große Heer der passiven Liebhaber des Tangos, das entsprechende Konzerte besucht oder an Sommertagen die Open-Air-Events einkreist und sich dort von aktiven Liebhabern begeistern lässt, hier ganz außer Acht bleibt.

Kritiker könnten einwenden: Wichtiger als solche Zahlen sind das Tanzniveau und die Innovationskraft, wenn man große Tango-Metropolen vergleicht. Richtig, aber im Zeitalter der digitalen Kommunikation und globalisierten Mobilität gilt auch für den Tango, dass man es längst mit einer international vernetzten Profi- und Innovationsszene zu tun hat. Neue Tanzstile, neue Figuren und musikalischen Neuerungen verbreiten sich via Internet blitzschnell in aller Welt. Und der gute Ruf, den sich verschiedene „Champions“ aus Berlin – Tanzlehrer, DJs, Bandoneon-Spieler oder Bands – innerhalb der internationalen Tango-Elite erworben haben, steht unter Kennern außer Frage.

Ungefähr zweihundert Personen hat der Tango bereits zum Hauptberuf oder zur existenzsichernden Zweitbeschäftigung verholfen. Und auch wenn die Zahl derjenigen Touristen, die Berlin als Tango-Metropole schätzen und die Stadt deswegen besuchen, unter den insgesamt zwölf Millionen Touristen jährlich noch zu vernachlässigen ist – sie wächst beständig.

Das offizielle Stadtmarketing nutzt das Label „Tango-Metropole“ seit Jahren, wenn es gilt, Berlin gegenüber Touristen oder ansiedlungsbereiten Jungunternehmen ins rechte Licht zu setzen. Wann immer die Städtepartnerschaft von Berlin und Buenos Aires zur Sprache kommt, ist „die gemeinsame Liebe zum Tango“ nicht fern. Auch Großunternehmen wie die Deutsche Bahn können vom Tango-Flair profitieren; im Berliner Hauptbahnhof findet das spektakuläre, weltweit einzigartige  „Contemporary Tango Festival 2016“ statt. Die AG City, eine Organisation von rund vierhundert Unternehmen und Gewerbetreibenden, plant Tango-Events in ihr diesjähriges Sommerfest zu integrieren. Zu erwähnen ist ebenso das „Queer-Tango-Festival“, mit dem die große Schwulen- und Lesbenszene Berlins den Reigen internationaler Tango-Festivals an der Spree bereichern wird.

Mit anderen Worten: Weit über die unmittelbare Tanz-Szene hinaus ist der Begriff „Tango-Metropole Berlin“ ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, trägt zum Selbstverständnis der Stadt wie zu ihrer Wahrnehmung von außen bei. Aber, und das sind die eigentlich spannenden Fragen, wie kann man sich die weltweite Tango-Renaissance, wie kann man sich die Bedeutung, die Berlin innerhalb dieser Bewegung gewonnen hat, erklären?

Schattengewächs

Dazu muss man kurz von der Spree zum Rio de la Plata wechseln. Bekanntlich entstand der Tango in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und zwar als musikalisch-tänzerisches Mixtum compositum unterschiedlicher Weltregionen in den Immigrantenvierteln von Buenos Aires. Seine südländisch-leidenschaftlichen, seine heimatverloren-melancholischen, seine provokativ-erotischen Seiten sind immer wieder ausführlich beschrieben worden. Ebenso wie das „verruchte Hafenmilieu“ von arbeitsscheuen Herumtreibern, von Huren und harten Ganoven – so sah dieses Milieu jedenfalls in den Augen der damaligen Kolonialbourgeoisie Argentiniens aus.

Und tatsächlich, von derartigen Vorurteilen abgesehen, muss man einräumen, dass es durchaus ein chauvinistisch geprägtes, antibürgerliches Milieu war, in dem der Tango als Stilrichtung durchgeprobt und schließlich etabliert wurde. Erst viel später, als dieser Tanz vor dem Ersten Weltkrieg in der Bohème europäischer und nordamerikanischer Metropolen, insbesondere in Paris, Triumphe feiern konnte, stieg er dann, in seine Heimat zurückgekehrt, zu dem nationalen Kulturgut auf, zu dem sich heute alle Argentinier bekennen.

Grob datiert beginnt in den 1980er Jahren die jüngste und diesmal weltweite Renaissance des Tangos. Helsinki, New York, Tokio, Istanbul , Sydney … eine Wiedergeburt mit solcher Durchsetzungskraft, dass die UNESCO diesen Tanz im Jahr 2009 schließlich zum Weltkulturerbe erklärte. Auch wenn er – von orthodox-religiös geprägten Weltregionen einmal abgesehen – längst gesellschaftsfähig geworden ist, heften dem Tango die genannten Ursprungseigenschaften – leidenschaftlich, schwermütig, erotisch – zumindest noch als identitätsstiftende Reminiszenzen an.

Vor allem in verunsichernden gesellschaftlichen Umbruchphasen und individuellen Krisen – technologische oder soziale Revolutionen, schmerzhafte Trennungen oder wirtschaftliche Notlagen – konnte der Tango seine Anziehungskraft entfalten. Umbrüche und Krisen, die immer mit nostalgischen Rückblicken oder melancholischen Verlustreaktionen, mit Orientierungswünschen und Hoffnungen auf einen glücklichen Neuanfang beladen sind.

Zurück an die Spree. Für die Umbruchphase zum Ende des Kalten Krieges haben sich im Gedächtnis der Welt  die Chiffre „1989“ und die Bilder vom „Fall der Berliner Mauer“ eingebrannt. Rund um den Globus verbreitete sich das Gefühl von einem „neuen Aufbruch Richtung Freiheit“. Vor allem eine Metapher trifft voll ins Schwarze: In dieser Stadt wurden tatsächlich „versteinerte Verhältnisse zum Tanzen gebracht“.

Allerdings nicht in erster Linie als Tango: Nach der Wende versammelten sich bekanntlich bis zu 1,5 Millionen Besucher aus aller Welt zur jährlichen Loveparade, und hier herrschte ein alle sozialen Klassen übergreifender Techno-Sound. Auch die Bilder der tanzenden Spreemetropole haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingeprägt, und noch heute pilgern jährlich Hunderttausende von ausländischen Jugendlichen und Touristen auf der Suche nach Berlins doppeltem Gesicht: Hier das morbide, steinern-museale Erbe aus Deutschlands zwei Diktaturen, dort die lockeren Chill-out-Zonen und Rhythmen einer für ihre Tanz-Clubs berühmt-berüchtigten Stadt.

Von diesem historischen Umbruch und vom Windschatten der Loveparade profitierte auch die Tango-Szene Berlins. Sicherlich ist ihre soziale Basis deutlich schmaler. Auch gegenüber dem ursprünglichen Hafenmilieu am Rio de la Plata unterscheidet sich die heutige TangoCommunity vor allem durch ein höheres Bildungsniveau.

Das Gros der heutigen Tänzer und Tänzerinnen lässt sich mit dem etwas altertümlichen Begriff „Bildungsbürger“ etikettieren. Zwar werden auch die beruflichen Positionen und Perspektiven akademisch ausgebildeter Kreise von den aktuellen technologischen Umwälzungen und Wirtschaftskrisen erfasst; nicht wenige aktive Tänzer und Tänzerinnen gerade in Berlin sind zumindest zeitweise arbeitslos, leben in prekären Verhältnissen – und flüchten im Tango auch aus dieser Bedrängnis. Aber im Ganzen gesehen ist das Wohlstands- und Bildungsgefälle zwischen der globalen Tango-Community heute und dem damaligen Tanzmilieu im Hafen von Buenos Aires eklatant und sicherlich historisch zu nennen.

Der bildungsbürgerliche Zuschnitt der Szene, nicht selten mit einem bohèmienartigen Selbstbewusstsein verbunden, artikuliert sich als Abgrenzung gegenüber einem vermeintlichen oder tatsächlichen kulturellen Mainstream. Sei es die Vereinsamung in Single-Existenzen oder in rigide abgekapselten Ehe-Verhältnissen, seien es Berührungsängste im öffentlichen Raum oder jugendliche Coolness-Ideale: Durch die temporäre Paarbildung, durch körperlicher Expressivität  und erotisierende Nähe setzt sich der Tango schon ganz vordergründig von solchen Grundströmungen in modernen Lebenswelten ab.

Übrigens, dies nur nebenbei, hat sich der bildungsbürgerliche Zuschnitt der Szene auch musikalisch Bahn geschaffen, etwa in der Richtung des Tango Nuevo. Das heutige Publikum tanzt jedenfalls zu einem Repertoire, das weit über die populären Lieder eines Carlos Gardel oder Carlos di Sarli hinausreicht und die intellektuell-konzertanten Werke Astor Piazzollas ebenso umfasst wie den Non-Tango, also die tänzerische Umsetzung unterschiedlicher Richtungen der Weltmusik.

Face to face

Statt von „Bildungsbürgern“ oder „Bohèmiens“ sollte man eher von „Kreativen“ sprechen, auch wenn dieser Begriff häufig einseitig auf Beschäftigte in informations- und kommunikationstechnologischen Unternehmen ausgerichtet ist. Denn genau betrachtet, also hinter der Oberfläche des bloßen Tanzvergnügens, geht es auch beim Tango um Kreationen, die sich mit zwei großen gesellschaftlichen Umwälzungen auseinandersetzen – der Virtualisierung und Feminisierung individueller wie gesellschaftlicher Beziehungen.

Dass die jüngste Tango-Renaissance in einem Zeitraum stattfindet, in welchem der Computer und das Internet alle sozialen Beziehungen durchdringt, verunsichert und neu gestaltet, ist alles andere als ein Zufall. Betrachten und vergleichen wir die Anbahnung von Online- und Tango-Partnerschaften: Im Internet werden Fotos und Suchkriterien eingegeben, welche nun dem Software Engineering und den Matching-Algorithmen der Dating Sites und Partnerbörsen überantwortet werden. Im Tanzsaal hingegen geht es um direkten Blickkontakt und unmittelbare, enge körperliche Berührung.

Um nicht missverstanden zu werden: Bei jedem Paartanz und auch beim Tango geht es in erster Linie um das Tanzen, um kurzweilige Begegnungen, keinesfalls immer und automatisch um Partnersuche. Da aber ein großer Teil der aktiven Tango-Szene aus Singles besteht und zum anderen aus Paaren, für die das tänzerisch-erotische Spiel mit wechselnden Partnern kein Problem darstellt, lässt sich das Knüpfen von Online- und Tangokontakten durchaus vergleichen.

Die Differenz beider lässt sich folgendermaßen beschreiben: Nach dem ersten Foto-Eindruck haben in den Partnerbörsen die nüchternen Kriterien des sozialen Status – Ausbildung, Beruf, Einkommens- und Eigentumsverhältnisse, Freizeitaktivitäten, Ernährungsgewohnheiten usw. – einen ungleich höheren Effekt als im Tanzsaal, wo nach dem ersten Live-Gesamteindruck die tänzerische Harmonie, das unmittelbare intellektuelle wie emotionale Feedback, ja selbst der Tast- und Geruchssinn viel stärker über die Fortführung des Kontakts zu „Tango-Freundschaften“ entscheiden.

Man kann die weltweite Tango-Renaissance also auch als eine Face-to-Face-Reaktion auf die zunehmende Bedeutung virtueller Realitäten im Internet-Zeitalter begreifen. Nicht im Sinne einer Anti-Reaktion, denn das Tango-Milieu – was allein schon die großen nationalen und lokalen Facebook-Communities verraten – ist ja keineswegs besonders technikkritisch eingestellt. Es handelt sich vielmehr um eine kompensatorische Reaktion.

Derartige Reaktionen werden im Wissenschaftsjargon zuweilen auch als „Rebound-Effekte“ bezeichnet, die einem Ausgleich von Extremen dienen. Reaktionen, die man aus ganz unterschiedlichen Bereichen kennt. Als zum Beispiel um die Jahrtausendwende die interne Kommunikation in nahezu allen großen Wirtschaftsunternehmen auf Online-Kommunikation und elektronische Medien umgestellt wurde – Intranet, Audio- und Video-Conferencing, Telearbeit etc. – mussten die Verantwortlichen recht rasch erkennen, dass mit zunehmender Virtualisierung zugleich das Bedürfnis nach persönlicher Kommunikation unter den Beschäftigten wuchs, ob es um Managementkonferenzen, Town Meetings oder einfache Belegschaftsfeiern ging.

Es ist zu vermuten, dass solche Rebound-Effekte, in denen es um eine neue Balance von technologisch vermittelter und persönlicher Kommunikation geht, nicht nur die Tango-Szene, sondern weit darüber hinaus die gesamte Kultur-, Musik- und Tanzszene mit ihren Aberhunderten von kleinen und großen Festivals charakterisieren helfen.

Tango feminin

Könnte es sein, dass die Tango-Renaissance auch als eine Reaktion auf die Erfolge des Feminismus in den vergangenen Jahrzehnten begriffen werden kann? Die dynamische Führung des Mannes bei diesem Paartanz ist offensichtlich; auf den ersten Blick jedenfalls scheint es in diesem Tanz mit einer Gleichheit der Geschlechter nicht allzu weit her zu sein. Sollte die Tango-Renaissance auch als eine Art post- oder gar antifeministischer Gegenreaktion verstanden werden können?

Dieser erste Eindruck, Basis eines verbreiteten Vorurteils, täuscht gewaltig. Er verdankt sich nicht allein der Unkenntnis heutiger Lebensstile von Tänzerinnen, des enormen Selbstbewusstseins einer Milonguera. Er verdankt sich der Unkenntnis des Tanz-Prozederes selber. Denn nach der dynamischen Eröffnung des Tanzes beginnt – ein gleichhohes Niveau beider vorausgesetzt – ein Wechselspiel von Impulsen zwischen Mann und Frau, das sich nicht hierarchisch deuten lässt. Schritte und Figuren der Männerrolle eröffnen einen Rahmen, in dem diejenigen der Frauenrolle sich entfalten und häufig ungleich variationsreicher und tanzbestimmender ausfallen können als beim Mann. Bis hinein in Choreographie und Rhythmik ist es der Frauenrolle möglich, den Tanz mit zu gestalten, zu forcieren oder zu moderieren.

Der Tango hat den Machismo früherer Hafenspelunken längst hinter sich gelassen. Gleichwohl ist die zeitliche Abfolge und Überschneidung von feministischer Bewegung und jüngster Tango-Renaissance interessant – und wahrscheinlich mehr als nur ein Zufall. Vielleicht macht dies ja den besonderen Reiz und die starke Anziehungskraft dieses Tanzes für so viele Frauen aus: Auf ein ursprünglich männlich dominiertes Terrain einzubrechen, auf diesem Terrain erotische Muster durchzuspielen und durchzusetzen, die mehr Gleichberechtigung zum Ausdruck bringen, als es das Vorurteil will.

Norbert Kostede, Politikwissenschaftler und Publizist, und Heike Walk, Geschäftsführerin des Forschungszentrums für Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin, zählen seit über zehn Jahren zur aktiven Tango-Szene Berlins.