Abschied von der Fress- und Saufkultur (Tagesspiegel-Online)

Berliner Kurfürstendamm
Abschied von der „Fress- und Saufkultur“
Tagesspiegel-Online – 02.09.2015 22:05 Uhr – Von Norbert Kostede

Windmühle auf dem Breitscheidplatz: Vom „Summer in the City“-Fest auf dem Breitscheidplatz hält unser Autor wenig. – Foto: Cay Dobberke
Wann immer in den vergangenen Jahren Prestigeprojekte auf dem Kurfürstendamm oder um ihn herum verwirklicht wurden (Waldorf Astoria, Bikini Berlin, Haus Cumberland), hieß es sofort: „Der alte Westen lebt!“ Als würde der Mythos West-Berlins aus Beton oder Glasfassaden wiederauferstehen. Nein, dieser Mythos gründet in Menschen, in einem urbanen, weltstädtischen Leben, und auch die Zukunft West-Berlins hängt allein davon ab.
Wobei es nicht darum geht, einem Mythos gerecht zu werden, sondern um viel Banaleres – um Geld und Prestige. Zum einen darf der Westen nicht von Berlins preußischer Mitte, nicht vom Regierungsviertel oder von den jugendlichen Szenequartieren abgedrängt werden. Zum anderen muss auch der Westen einen hochwertigen Beitrag leisten, damit ganz Berlin im touristischen wie im wirtschaftlichen Wettbewerb der Metropolen weiterhin zur europäischen Spitzengruppe zählt.
Stadtquartiere im Vergleich
Vergleichen wir West-Berlin mit anderen Quartieren der Hauptstadt, beginnen wir mit den „Szenevierteln“.
Jährlich pilgern Hunderttausende von Jugendlichen aus Europa und Übersee durch Kreuzberg oder Friedrichshain – die Chill-out-Zonen der Generation easyJet. Täglich suchen ganze Hundertschaften von Künstlern und Lebenskünstlern, von Internet-Freaks und Studenten aus aller Welt in Wedding, Pankow und Neukölln nach den letzten bezahlbaren Lofts und Hinterhof-Zimmern. Mittlerweile handelt es sich um eine ganze Armee von „Kreativen“, die in diesen Quartieren experimentiert, scheitert und wieder von neuem anfängt. Man wird dieses Treiben eines Tages mit den „Goldenen Zwanziger Jahren“ des vergangenen Jahrhunderts vergleichen.
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Norbert Kostede arbeitete als Redakteur der „ZEIT“ und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hannover. Er betreibt die Website „www.metropolitan-transfer.com“.
Die Elterngeneration hingegen zieht es eher nach Mitte, ins „historisch-kulturelle Zentrum“ der Stadt, sei es auf die Pfade der Preußenkultur (Museumsinsel, Gendarmenmarkt, Scheunenviertel), sei es hin zu den Orten und Spuren der Nazi-Gräuel oder zu den letzten Relikten des Kalten Krieges. Es ist bekannt, wie gerade das steinern-museale Erbe aus Deutschlands zwei Diktaturen den Touristenstrom in Bewegung hält.
Attraktiv ist auch das „neue Regierungsviertel“. Die Baukran-Wälder der 90er Jahre sind verschwunden, nun sieht man modernistisch-pompöse Repräsentationsarchitektur von der Spree bis hinauf zu den Fassaden des Potsdamer Platzes. Konzern- und Verbandszentralen, Medien oder Agenturen für alles Mögliche lassen sich in dieser repräsentativen Gegend ebenfalls gern nieder.
Wenn aber die Schwerpunkte von Unterhaltung und Kultur, von Geschichte und Repräsentation in Berlin derart verteilt sind, was bleibt dann noch für die City West? Und welche Rolle kann insbesondere deren zentrales Quartier rund um den Kurfürstendamm noch spielen?
Babylon statt Berliner Schnauze
Vielen Akteuren aus Wirtschaft und Politik ist der entscheidende Entwicklungssprung, den West-Berlin in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten getan hat, noch immer nicht bewusst. Sie konzipieren ein Stadtleben aus der Gedankenwelt der Vergangenheit.
Bummeln wir einmal über den Ku’damm, um dies zu verdeutlichen. Man muss kein Sprachkundler sein, um nach wenigen Minuten herauszuhören, dass man nicht durchs alte Berlin, sondern durch ein modernes Babylon bummelt. An sonnigen Nachmittagen stößt man locker auf 30 Fremdsprachen und auf ein Dutzend süd- und norddeutsche Dialekte, ohne auch nur eine originale Berliner Schnauze zu Gehör zu bekommen. Kein „Dit is dufte“, kein „Mach ma dalli“, kein Juhnke, keine Künneke – diese Vögel sind im Kudamm-Kiez ausgestorben.
Ähnliches signalisieren uns die Labels und Logos am Boulevard, die Globalisierung des Kurfürstendamms. Im renommierten KaDeWe, es gehört Österreichern, Italienern und Thailändern, trifft internationale Kundschaft auf eine globalisierte Warenwelt.
Auch von anderen Alt-Berliner Geschäften, Restaurants, Tanzsalons, Theatern oder Kinos sind höchstens restaurierte Fassaden, in den meisten Fällen nur nostalgische Erinnerungen übrig geblieben. Selbst der offizielle Sammelname für so traditionsreiche Stadtteile wie Charlottenburg oder Wilmersdorf kommt uns heute wie selbstverständlich in der Lingua franca der Globalisierung über die Lippen: „City West“.
Risikofaktor „Einkaufsboulevard“
Was den innerstädtischen Wettbewerb um Attraktivität und Ressourcen angeht, richtet sich die Hoffnung vieler Bezirkspolitiker und Unternehmer vor allem auf zwei Funktionen, nennen wir sie hier vereinfacht „shopping“ und „accommodation“.
In allen Imagebroschüren wird der Ku’damm als „weltbekannter Einkaufsboulevard“ gepriesen. Sicherlich, noch fließt das Geld, aber man sollte sich von den Flagshipstores und eleganten Geschäften nicht täuschen lassen. Eine Zukunftsgarantie bietet diese Funktion nicht. Irgendwann wirkt noch die erfolgreichste Einkaufsmeile ohne markante urbane Kontrapunkte monoton, langweilig.
In abgewandelter Form gilt dies auch für „accommodation“ (die Unterkünfte): Auch diese Funktion kann aus sich heraus keine Zukunft garantieren. Hier geht es sowohl um die Wohnqualität als um eine „bindende“ Beherbergung der Besucherströme.
Wie schwach diese Bindung ist, zeigt sich jeden Morgen: Touristen aus den weit über 100 Hotels und Pensionen rund um den Kurfürstendamm strömen zu den Bussen, zu den U- und S-Bahnen, die sie zu den historisch-kulturellen, zu den politisch-repräsentativen Highlights der Stadt transportieren. Abends findet ein Exodus deutscher und ausländischer Jugendlicher in Richtung der Szenequartiere statt. Viele Touristen werden sich diesen Spagat bei kommenden Besuchen ersparen.
Provinzielle Volksfeste
Zwar sieht es mit der Wohn- und Freizeitqualität westlicher Quartiere für ortsansässige Familien und Singles anders aus. Die ungebrochene Wohnraumnachfrage, steigende Mieten und Immobilienpreise dokumentieren die hohe Attraktivität der – sehen wir von Grunewald einmal ab – sozial relativ ausgewogenen Viertel. Aber auch die Bevölkerung bekommt die Widersprüche zwischen dem Mythos des alten Berlins und einem kommerzialisierten, provinziellen Stadtleben zu spüren. Nichts veranschaulicht dies deutlicher als die offizielle Eventkultur. Bild vergrößern

Ist der Kellnerlauf über den Ku’damm eine „Brücke zwischen Tradition und Moderne?“ – Foto: dpa
Vor allem die AG City und der Schaustellerverband bemühen sich, die Anziehungskraft des Westens zu stärken. In den „Classic Days“ darf das Publikum Oldtimer und PS-starke Luxusboliden bestaunen. Dazu kommen das Volksfest „Summer in the City“ mit Currywurst, Showbühne und dem nicht gerade berlintypischen Wahrzeichen einer Windmühle oder der Weihnachtsmarkt mit Tanne und Glühweinverkauf. Der „Berliner Kellnerlauf“, ausgerichtet vom Neuen Kranzler-Eck, soll – so heißt es allen Ernstes – „die Brücke zwischen Tradition und Moderne schlagen“.
Immer mehr West-Berliner und Touristen rümpfen über diese „Fress- und Saufkultur“ die Nase, aber andere, die es besser machen könnten, treten erst gar nicht an. Zum Beispiel die Stargastronomen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen glauben sie, wenn sie die Bürgersteige mit Tischen und Stühlen belegen, ihren Teil zum urbanen Kulturleben beigetragen zu haben. Musik- und Tanzerlebnisse? Fehlanzeige.
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Da ginge noch mehr. Norbert Kostede wünscht sich ein stärkeres Engagement der Schaubühne am Lehniner Platz für den Ku’damm. – Foto: Cay Dobberke
Oder nehmen wir die Schaubühne; sie zählt mittlerweile zu den Spitzentheatern Europas. Für eine solche Institution wäre es ein Leichtes, zumindest einmal im Jahr draußen einen Kontrapunkt mit Weltniveau zu setzen. Fehlanzeige. Sie alle profitieren vom Mythos Kurfürstendamm – und tragen nichts zur Erneuerung bei.
Kleinkariertes kennzeichnet auch die Senats- und Bezirkspolitik, die zwar versucht, den kommerziell geprägten Rummel etwas zurückzudrängen. Aber als Alternative bietet man ausgerechnet die Eröffnungsveranstaltung einer „Seniorenwoche“ an – mein Gott!
World Boulevard Days
Niemand kann über Nacht eine Vision präsentieren, die alle erleuchtet und keinem wehtut. Was aber möglich und notwendig ist, sind Impulse für eine verstärkte Suche nach Vorbildern und latenten Potenzialen, die der City West eine neue Anziehungskraft verleihen und der Weltläufigkeit ihrer Bewohner und Besucher entsprechen.
Fantasieren wir einmal unbefangen drauf los und stellen uns für den Sommer 2016 eine mehrtägige Veranstaltung vor. Nennen wir sie etwas großspurig „World Boulevard Days“, organisiert von einem aufgeschlossenen, einflussreichen Kreis aus West-Berliner Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur. Wie könnten die Themen einer solchen Veranstaltung aussehen?
Kudamm E-Mobility:Während in der Technischen Universität Streitgespräche stattfinden zwischen Vertretern einer konventionellen Verkehrspolitik (AG City, Verkehrssenator, ADAC) und den Planern und Machern neuer Mobilitätskonzepte (Google DC, VW e-mobility, Urbino 12 electric, ADFC), erhalten letztere für eine Woche die Chance, die Praktikabilität ihrer Konzepte auf dem Kurfürstendamm zu demonstrieren.
Flashmob Berlin-Babylon: Organisiert von Professoren und Studenten der Universität der Künste, von Regisseuren, Sängern, Tänzern und Schauspielern der West-Berliner Bühnen werden Flashmobs von Halensee bis zum Wittenbergplatz konzipiert, die dem internationalen Charakter wie dem traditionellem Niveau dieses Boulevards gerecht werden.
HotSpot City West: Organisiert von Berliner Online-Redaktionen und Internet-Startups werden – unter den kritischen Augen des Chaos Computer Clubs und des Fraunhofer Instituts – zeitgemäße Applikationen vorgeführt und getestet: Wie steht es um die Online-Information (Meldeangelegenheiten, Wohnungssuche, Studienmöglichkeiten, Verkehrsinformationen, Hygienemängel usw.) und Online-Bürgerbeteiligung (bei Bauvorhaben, zur Verkehrsgestaltung usw.) in der City West?
Metropolitan Boulevard Contest: Im Maison de France wird die historische Entwicklung des Pariser Vorbilds dokumentiert, der Avenue des Champs-Élysées. Zugleich stellen Urbanisten, Stadtplaner und Architekten in der Urania Konzepte vor, mit denen Metropolen wie Madrid, Tokio, London oder New York an einer modernen, umweltfreundlichen und sozial-integrativen Gestaltung der großen Boulevards und Chausseen arbeiten.
Kudamm Tango/Klezmer Nights für die riesige Tanz- und Musikszene Berlins.
Für die renommierten Galerien, Museen und Literatentreffpunkte: Western Arts Ramble.
Wir können es bei dieser Skizze belassen, denn sie soll allein deutlich machen: West-Berlin attraktiver zu gestalten, zielt weit über Beton und Restaurierung, über Volksfestrummel, über Nostalgie und Mythos hinaus.
Die Aufgabe lautet, das Bewusstsein für einen neuen Aufbruch „nach vorn“ und „in großem Stil“ zu entwickeln. Als „Museum des alten West-Berlins“ kann die City West weder überleben noch dazu beitragen, dass die Stadt eine europäische Top-Metropole bleibt.